[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2007/06 | Seite 35
56. Jahrgang | Juni
Deutscher Kulturrat
Welten der Entdecker
Zum 100-jährigen Jubiläum der Zeitschrift MIKROKOSMOS
Wenn man einen Stein anfasst, strahlt die Kühle und Mächtigkeit.
Zerkrümelt man schweren Boden zwischen den Fingern, riecht
man den eigentümlichen Duft der Erde. Betrachtet man den Samenstern
des Löwenzahns, explodiert eine unbegreifliche, faszinierende
Welt. Und doch ist alles, was wir se-hen, fühlen, riechen,
nur eine winzige, schwach schimmernde Spektrallinie im grellen
Licht des Lebens. Vieles um uns herum können wir nicht wahrnehmen.
Oft fehlen uns die Sensoren, das Instrument in unserm Kopf. Nicht
selten aber sehen wir es nicht, obwohl wir es sehen könnten.
Unser Gehirn arbeitet zielgerichtet. Suchen wir die kleine blaue
Blume in dem großen Pflanzenmeer einer Wiese, werden wir
sie finden. Ohne Suchauftrag aber bleibt sie verborgen. Je mehr
Suchaufträge eingespeichert werden, umso mehr Entdeckungen
machen wir.
In hellweißen, lichtdurchströmten Räumen stehen
die Augen und Ohren der Wissenschaft. Apparate verstärken
die Sinne, die Welt des Mikro- und Makrokosmos wird erlebbar. Kleinste
Mengen eines Stoffes sind wägbar und unsichtbare Strahlen
messbar. Die Naturwissenschaft hat die Spektrallinie des menschlichen
Geistes merklich dicker gemacht. Wer die Welt einmal durch ein
Mikroskop betrachtet, wird verstehen, was das heißt. Das
behäbige Kriechen einer Amöbe, das hektische Strudeln
der Wimpertierchen, die Symmetrie der Zieralgen und die fast unheimliche,
bis heute noch nicht restlos verstandene Fortbewegung der Kieselalgen.
„Schulung der Sinne“ – unter diesem Begriff lassen sich
die kulturelle und die naturwissenschaftliche Bildung zusammenfassen.
Geht es doch jeweils darum, genau hinzusehen, genau hinzuhören,
genau zu beobachten, genau nachzumachen, genau nachzuzeichnen.
In den bildungspolitischen Debatten wird aber oftmals getrennt
zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften.
Bereits in der Schule gibt es die Unterscheidung zwischen den vermeintlich
wichtigen Hauptfächern wie Mathematik und den verschiedenen
naturwissenschaftlichen Disziplinen einerseits und den Nebenfächern
wie Kunst, Musik oder Darstellendes Spiel andererseits. Dass diese
Gegenüberstellung von einem verkürzten Bildungsverständnis
geprägt ist, soll diese Ausgabe von kultur · kompetenz · bildung
zeigen. In diesem Jahr wird die Zeitschrift MIKROKOSMOS 100 Jahre
alt. Sie wurde im Jahr 1907 mit dem Ziel gegründet, breiten
Bevölkerungsschichten den Zugang zur Mikro-
skopie und damit zur Schönheit der Kleinstlebewesen zu ermöglichen.
Sie war getragen von einem volksbildnerischen Impetus. Sie richtete
sich bewusst an interessierte Laien und ist noch heute eine Zeitschrift,
in der sowohl interessierte Laien, die sich der Mikroskopie als
Hobby verschrieben haben, als auch Fachwissenschaftler ein Forum
finden. In dieser Breite ist die Zeitschrift einmalig. Einmalig
ist sie unter anderem auch deshalb, weil sie als eine der wenigen
naturwissenschaftlichen Zeitschriften, die in einem renommierten
Fachverlag erscheinen, durchgängig in deutsch publiziert wird.
Damit bleibt gewahrt, dass auch weiterhin Laien die Zeitung nicht
nur lesen, sondern auch darin veröffentlichen und, das sollte
dabei nicht vergessen werden, dass Deutsch als Wissenschaftssprache
noch eine kleine Überlebensnische mehr hat. Das Faszinierendste
an MIKROKOSMOS aber sind seine Abbildungen. Kunstwerke aus dem
Reich des Lebens im Wassertropfen. Schönheiten gefunden in
den Mikrostrukturen eines Blattes oder auf der Oberfläche
des Chitinpanzers eines Käfers.
Wir können hier nur einen sehr schwachen Eindruck von der
Qualität der Abbildungen geben, da der schwarz-weiße
Zeitungsdruck mehr nicht zulässt. Wer interessiert und mit
ein wenig Geduld durch ein Mikroskop blickt, wird eine unendlich
große Welt im Kleinen entdecken. Ihm wird eine erstaunliche
Formenvielfalt offenbar werden. Wer versucht, die Entdeckungen
zu zeichnen, wird feststellen, wie schwierig es ist, der Schönheit
und dem Formenreichtum gerecht zu werden. Genauso wie es Geduld
und Erfahrungen bedarf ein Bild, eine Symphonie, ein Theaterstück
oder ein Buch zu lesen, bedarf es auch genau dieser Fähigkeit,
wenn man die Natur beobachten will. Die großen Entdecker
Carl Friedrich Philip von Martius, Alexander von Humboldt und andere
haben es vorgemacht: Wer die Welt entdecken will, muss seine Sinne
schulen. Er muss mit Interesse zuhören, den Tieren, den Menschen,
den Mythen, der Kunst. Er muss mit Interesse beobachten, die Pflanzen,
die geografische Gestalt, die Riten der Menschen. Er muss von dem,
was er gesehen hat, berichten und erzählen können. All
dieses vermittelt sowohl die kulturelle als auch die naturwissenschaftliche
Bildung. Wie nahe beides zusammenliegt, zeigen die nachfolgenden
Beiträge.
Es ist noch gar nicht solange her, dass Naturwissenschaft, Kunst
und Religion eine Einheit bildeten. Mit der Aufklärung kam
die Separierung. Das brachte Freiheit, viele, sehr viele Kunstwerke
und viele, sehr viele wissenschaftliche Erkenntnisse sind nur deshalb
möglich geworden. Aber es brachte auch Beziehungslosigkeit
der Disziplinen untereinander, die auch, das wird immer deutlicher,
neue Erkenntnisse behindern. Diese Beilage soll eine Tür in
eine vermeintlich andere Welt öffnen, die, betrachtet man
sie genauer, nur eine andere Sicht der eigenen Welt ist.
Für Künstler ist der Blick in das Reich der Naturwissenschaft
schon immer Passion gewesen. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse
sind immer im Wissenshorizont von Kunst gewesen. Die Naturwissenschaftler
entdecken im zunehmenden Maße die Kunst als Inspirationsquelle,
um schwierige naturwissenschaftliche Fragen besser lösen zu
können. Für die Mikroskopierer, genauso wie für
die Astronomen, waren und sind die Kunst und die Religion aber
immer schon sehr nah. Wer das Wunder im ganz Kleinen wie im ganz
Großen betrachtet, die Schönheit im Wassertropfen wie
die Schönheit in der Milchstraße, muss sich selbst Fragen
beantworten, auf die die Naturwissenschaft alleine keine befriedigende
Antwort gibt.
Kunst und Wissenschaft sind die Säulen der menschlichen Entwicklung,
hier wird das Suchen, das Entdecken zur Passion. Diese „Welten
der Entdecker“, wo sich Kunst und Naturwissenschaft begegnen,
interessieren mich schon seit meiner Jugend. Deshalb dieser Schwerpunkt
zum 100-jährigen Jubiläum der Zeitschrift MIKROKOSMOS.
Mein herzlicher Dank bei der Erstellung dieser Ausgabe gilt Prof.
Dr. Klaus Hausmann, Herausgeber des MIKROKOSMOS und Leiter der
Arbeitsgruppe Protozoologie an der Freien Universität Berlin,
sowie seiner Mitarbeiterin Dr. Renate Radek. Ohne deren Engagement
hätte die Ausgabe nicht realisiert werden können.