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nmz-archiv
nmz 2008/06 | Seite 42-43
57. Jahrgang | Juni
Oper & Konzert
Die Quadratur des Kreises
Reinhard Schulz zur Münchener Biennale
Ein Festival, das sich das Nachdenken über neue Formen des
Musiktheaters zum Ziel setzt, hat die Aufgabe, den Begriff musiktheatralischer
Ansätze zu erweitern. Denn die traditionelle Form der Oper
ist heute an Grenzen gelangt. Man mag dem widersprechen und auf
mögliche Wiedergeburten warten, aber die Erfahrungen mit der
klassischen Handlungsoper sind immer wieder dürftig und auch
die Komponisten, die kritisch ihr Tun überprüfen (es
sind die besten), spüren deutlich das innere Aufbegehren gegen
eine lineare Entwicklung einer Story. Fragen der musikalischen
Zeit in der Neuen Musik spielen hierfür eine maßgebliche
Rolle. Geblieben freilich ist der Wunsch, Musik über alle
Sinne zu vermitteln. So ist die Relation von dem Erklingenden zur
Wahrnehmung von Bild und Aktion auf Konventionen sprengende Art
neu zu fassen (dass die Parole „prima la musica“ dabei
immer noch gilt, steht außer Frage; eine andere Gewichtung
ist durch die Kategorien der Theater- oder Filmmusik weitgehend
abgedeckt).
Instrumentales
Geräusch-Theater: das Musiktheaterstück „hellhörig“ von
Carola Bauckholt. Foto: Regine Koerner
Die seit gut zehn Jahren von Peter Ruzicka geleitete Münchener
Biennale hat, das darf man vorweg sagen, in diesem Jahr dem experimentellen
Zugang zu Formen und Möglichkeiten des Musiktheaters breiten
Raum gelassen. Der immer wieder erhobene Vorwurf, dass es sich
hierbei nicht mehr um Oper handele, wirkt wehleidig – selbst
wenn die neuen Ansätze manchmal mehr perspektivisch, als schon
ganz in sich stimmig wirken mögen. Will man da nicht in eine
Stallwärme zurück, die schon lange ihre innere Glut verloren
hat? Es wäre an Brecht zu erinnern, der einmal sagte, man
solle nicht am guten Alten, sondern am schlechten Neuen anknüpfen.
Man darf der diesjährigen Biennale (mit dem Motto: Fremde
Nähe) bescheinigen, dass sie mit den vier großen
zur Debatte gestellten Musiktheaterwerken weit auseinanderliegende,
ja bisweilen sogar entgegengesetzte Konzeptionen bot. Es wurde
ein Raum abgesteckt, dessen Vektoren nach Außen in verschiedene
Himmelsrichtungen wiesen. Dass es so gekommen ist, darf man auch
als Glück des Veranstalters ansehen, denn genau planbar ist
so etwas nicht. Und so warfen Enno Poppes „Arbeit Nahrung
Wohnung“, Klaus Langs „architektur des regens“,
Carola Bauckholts „hellhörig“ und Jens Joneleits „Piero – Ende
der Nacht“ jedes auf seine Weise Positionen oder Eckpunkte
zum Verhältnis von Bild, Bewegung, Semantik und Klang ein,
die, ob in allem ganz stimmig oder nicht, als Wegweiser neuen musiktheatralischen
Denkens zu betrachten sind. Mit den vier Stücken gelang fast
so etwas wie eine Quadratur des Kreises.
Wenn Musiktheater heute weitgehend einer fortlaufenden Handlung
entbehrt, so heißt dies keineswegs, dass hiermit auf ein
Sujet verzichtet würde. Bei Enno Poppes „Arbeit Nahrung
Wohnung“ – eine Bühnenmusik für vierzehn
Herren – stand Daniel Defoes Robinson Crusoe Pate, wobei
freilich die Gewichte ganz anders gelagert sind. Die vier Seeleute
(souverän: Neue Vocalsolisten Stuttgart) als Retter sind handfeste
Burschen, wie sie ein Seemannsgarn nicht besser spinnen kann (auch
die acht Musiker der MusikFabrik, vier Schlagzeuger und vier Keyboard-Spieler,
die auf der Bühne agieren, sind in das Geschehen, das von
Außen in die Welt Robinsons und Freitags eindringt, verwickelt).
Freitag (Omar Ebrahim) ist schon bei Crusoe der, der die Mechanismen
der Zivilisation allmählich begreift. Hier im Stück überrundet
er Robinson und wird schnell Bestandteil der rüden Äußerlichkeiten
aus Shanty-Gesängen, Walzeradaptionen und nordschottischen
Choralanklängen. Robinson hingegen wird von diesem Treiben
mehr und mehr an die Wand gedrückt. Er, der aus der so genannten
Zivilisation kam und sich mit der Intimität des Insellebens
anfreundete, kann mit der neuen Diesseitigkeit, die die Rettung
verheißt, nichts anfangen. Er zieht sich zurück, sucht
die langsam verfließende Zeit, in die die Musik am Schluss
wie in einer Implosion von Klang und Handlung fast mutwillig gedehnt
ausläuft.
Eigene Wege
Textautor Marcel Beyer und Komponist Enno Poppe hatten sich auf
diese inhaltliche Grundstruktur geeinigt, dann aber gingen sie
eigene Wege. Von zwei Seiten sollte gewissermaßen mit zugespitzten
Mitteln literarisch wie musikalisch die isolierte Welt und der
Einbruch in sie sinnlich vertieft werden. Beyer versuchte ein Spiel
mit verbalen Querständen und Doppeldeutigkeiten, eine Vernetzung
von Jargon-Ausdrücken mit assoziativen Ausblicken auf kryptischer
Basis. Und Poppe verfuhr musikalisch ähnlich: er griff auf
Topoi von Volksmusik, vulgärer oder Innerlichkeit meinender
Sangesart und dann wieder auf Bereiche der Tanzmusik zurück.
Die vielschichtige Anordnung vermied es freilich, diese musikalischen
Welten zu zitieren. Poppe ging den Weg der Imitation mit anderen
Mitteln. Mikrotonale Stimmungen rückten den Klang in Zonen
des Nicht-Wirklichen, die vielleicht Halt in der Wirklichkeit suchen
und dennoch das Falsche ihrer Näherung unterstreichen. Es
ist wohl die Art, wie der entwurzelte Robinson das altvertraute,
aber mittlerweile fremd gewordene Geschehen vernahm. Er selbst
wandelt sich im Stück vom Sprecher zum Sänger, der gesungene
Ton ist dabei Zeichen seines Rückzugs. Das ist kompositorisch
eindringlich gelungen, ein Kaleidoskop aus verrückter Vertrautheit
und aus Klang gewordenen Allerweltsutensilien (die Schlagzeuger
bedienen gegen Schluss Kochgeräte, Werkzeuge und das Mobiliar)
berührt irrwitzige Regionen und lässt auf diesem Weg
die Entfremdung Robinsons, nicht zuletzt durch die engagierte Leistung
Graham F. Valentines, gegenüber der lauten Welt hörbar
werden. Die parallel dazu verlaufenden sprachlichen Verhakungen,
wohl ein Manko, sind nicht in gleichem Umfang wahrnehmbar, bedürfen
der Lektüre. Und die Regie (Anne Viebrock) beschränkte
sich auf lebendige Anordnung der Vorgaben, die schon die Partitur
in vielen Punkten festschrieb. Es war also in erster Linie die
virtuos perspektivenreiche Musik, die das Gelingen sicherte.
In sich weit geschlossener, ja fast hermetisch, wirkte demgegenüber
Klaus Langs Stück „architektur des regens“. Auf
der Basis eines alten, von Lang übersetzten No-Theaterstücks
von Motokiyo Zeami wird die Begegnung eines gebildeten Stadtmenschen
mit einem Holzfäller (zwei Soprane, Gotho Griesmeier und Alesja
Miljutina) geschildert, der die Schönheit der Natur so eindringlich
in Worte fasst, dass er dem Stadtmenschen später im Traum
als Gottheit der Poesie aufscheint. Das ist die Botschaft des Stücks: „Das
Höchste ist im Niedrigsten nicht nur enthalten, es ist eigentlich
dasselbe“ (Lang). All dies ist im Grunde lyrische Betrachtung.
Es gibt keine dramatische Konfrontation, alles strebt dem Gleichklang,
dem unendlich reichen Gleichklang der Natur (verkörpert durch
drei Bässe) zu. Das verlangt, um das Zarte des Sujets nicht
zu beschädigen, sowohl szenisch wie musikalisch äußerste
Zurückhaltung. Und diese wurde von Lang und der Regisseurin
Claudia Doderer radikal verwirklicht.
Einfach, ruhig, fließend
Der still gleichmütigen Betrachtung des wunderbaren Textes
wird jegliche dramatische Akzentuierung verweigert. Die Musik verläuft
ganz still in einfachen, ruhig fließenden Strukturen, die
nur in mikroskopischen Bereichen (Fragen der mikrotonal beeinflussten,
unterschiedlichen Stimmung, Geräuschanteile et cetera) eine
raue, schrundige Oberfläche spüren lässt. Das Verweilen
im anschauenden Gedanken, das Ausblenden von individuellen Triebkräften
soll durch diese Musik bewirkt werden. Und sie öffnet sich
nur dem, der dazu bereit ist, der sich vom Klischee des abendländischen
Musikdramas löst. Dann aber zieht sie den Hörer hinein
in eine vom Wollen gereinigte Welt, lässt ihn im Wechselspiel
mit den Klängen atmen, lässt ihn in die Tiefe blicken.
Derjenige freilich, der in der einfachen Grundaussage keine Tiefe
erblickt, muss dem Stück fremd gegenüberstehen. Denn
es ist in dieser Hinsicht konzessionslos, so konzessionslos, wie
es Bereiche des Wesenhaften, der philosophischen Schau ins Absolute
immer sind. Die perennierend redundanznahen Linien der Musik, die
nur in ihren Schattenwürfen, in den harmonischen Ausleuchtungen
von unendlicher Vielfalt zeugen, entwickeln so eine zentripedale
Sogkraft. Die Musik macht keine Kompromisse, aber sie lockt, wie
es vielleicht die fernen Gesänge der Sirenen taten. Und die
Szene (mit tanzender Gottheit am Schluss: Sophie Abrioux) tut nicht
mehr (darf nicht mehr tun), als die Statik des Betrachtens in ruhigen
Bildern und Farben zu vertiefen.
Nach den multiperspektivischen Schichtungen von Poppe und Beyer
und der statischen Konzentration Langs folgte mit Carola Bauckholts „hellhörig“ eine
weitere, diametral entgegengesetzte Facette musiktheatralischer
Möglichkeiten. Es war ein weitgehend handlungsloses Theater
der Geräusche, die drei Solisten (Sopran, Mezzo und Bariton)
waren zunächst in der Art von Living Sculptures erstarrte
Wesen, die sich, wie auch die weiteren Agierenden (drei Celli,
Klavier und vier Schlagzeuger), aus ihrer Erstarrung wie ein künftiger
Schmetterling aus seiner Puppenhülle lösten. Es wird
gerieben, geschlagen, gezischt, Kugeln rollen in einem Gefäß,
Blechwannen werden über den Boden gezogen und geben langgezogene
Laute von sich. Solche Momente könnten sich rasch verspielen
und ins Beliebige abgleiten. Bauckholt aber liebt die Geräusche
wie kleine, lebendige Wesen und hat sich in all ihren Kompositionen
ein ihnen innewohnendes, breites Ausdrucksspektrum erarbeitet:
oft ganz zart ihnen hingegeben. Denn Geräusche sind eigenwillige
Wesen, sie sind nicht so lenkbar wie musikalische Töne. Einen
harten Schlag kann man nicht beliebig dehnen, das Fallen eines
Balles stellt seinen eigenen Rhythmus her. Zugleich aber stellen
Geräuschen unwillkürlich eine assoziative Semantik her.
Die gezogene Wanne mag man mit Klagerufen vergleichen, wenn man
Luftballone reibt, kann man Schmeichelei und Zurückweisung
imitieren und so fort.
Und so wird die Komposition, die nur mit
der Partitur (kein Text, keine musikfremde szenische Anweisung,
keine Bildvorstellungen)
auskommt, gleich zwei Mal zum Theater: zum einen in der Form des
instrumentalen Theaters (Bauckholt hat bei Mauricio Kagel studiert),
also durch die notwendigen Aktionen zur Geräuschproduktion,
zum anderen durch eine sich bei jedem individuell einstellende
und gewiss unterschiedlich ausfallende semantische Deutung der
Geräusche. Denn ihnen sind durchaus Reiz-Reaktions-Muster
zueigen, und Bauckholt arbeitet auch deutlich mit diesen inhaltlichen
Elementen. Wir sind hier ganz nahe an Ursprüngen musikalischer Äußerung,
wo sich der Gesang noch dem Weinen oder Lachen entwindet, wo der
Schlag auf Holz noch die Struktur des Materials erkundet. Und so
sehr auch die Durchgestaltung des Stücks innermusikalischen
Kriterien genügt, so sehr spielt Bauckholt auch mit den Elementen
von Äußerung und Widerspruch, von Frage und Antwort
(aber tut das nicht die Musik insgesamt, sind diese Momente nicht
im noch so abstrakten Stück aufgehoben?). Und so erleben wir
in spannenden 75 Minuten eine Emanzipation des Geräuschs und
zugleich die Emanzipation ihrer Erzeuger. Frühmenschliche
Vergleiche, also aus vorsprachlicher Zeit, treffen das Stück
wohl am genauesten. Neugier, Schreck, Streit, Wutschrei, tastendes
Locken, die Lust am Herausfinden, das Hecheln des Atems, das Klopfen
der Herzen liegen in freundlichem Clinch und spinnen ihre Traumgeflechte,
die in der Installation (man vermeidet das Wort Regie) von Georges
Delnon und Roland Aeschlimann versiert und sehr findig zwischen
Abstraktion und Konkretion schwanken. Hervorragend auch die Einstudierung
durch Erik Oña (Geräusche brauchen dann keinen Dirigenten).
Einen vierten Aspekt, vielleicht den konventionellsten, was das
Verhältnis von Handlungsstruktur und Musik anlangt, hat Jens
Joneleit vorgelegt. Venedig, die Lagune, die weithin über
die Wasserfläche tragenden Signale der Schiffshupen, das schreit
förmlich nach Luigi Nono. Dort hat er auf der Giudecca
gelebt, dort ist er auf der Isola di San Michele begraben. Immer
wieder nahm das, so die Unterzeile, Hörstück für
ein Theater der wandernden Gedanken und Klänge „Piero – Ende
der Nacht“ nach Motiven des Romans „Die Rote“ von
Alfred Andersch deutlichen, mitunter vielleicht allzu deutlichen
Bezug auf das Vorbild. Das kann auch zur Hypothek werden, denn
Musiktheater heute funktioniert kaum nach Modellen (wie wir das
im Film häufig, aber auch dort meist mit Abnutzungserscheinungen,
erleben).
Musikalisches Ereignis
„Piero“ geriet, mit viel Impulsivität gespielt vom Ensemble
Modern unter Yuval Zorn, zu einem außerordentlich kraftvollen,
vielschichtig inspirierten musikalischen Ereignis. Die tragenden
Klänge, stille, über weite Strecken an einem hohen Fixton
aufgehängte Geflechte mit eruptiven Entladungen und Anstößen
entwickelten die Sogwirkung, die sich Joneleit erwünschte.
Denn man soll von der Musik umhüllt, ja voll in Beschlag genommen
werden, um von dieser Basis aus seine Gedanken schweifen zu lassen.
Die schöne Idee, das Publikum auf zwei gegenüberliegenden,
erhöhten Sitztribünen zu platzieren, die dazwischen einem
schmalen Laufsteg Raum gaben, und unter ihm im Bauch des Gerüsts
weit aufgeteilt die Musiker aufzustellen, schuf sinnfällig
diesen Charakter klanglicher Einbettung. Der Dirigent wurde dabei über
Monitore vor jedem Musiker über 20 Mal vervielfacht und war
auf virtuellem Weg allgegenwärtig. Die außerordentlich
fein durchgehörten Klänge drangen gewissermaßen
von unten in den Hörer, sinnbildlich umgingen sie so den Primärweg über
den Kopf, berührten das Unterbewusste. Immer wieder Archaisches:
Der Protagonist Piero, ein Fischer, war als Zeichen unterschiedlicher
Realitätsebene in Sprech- (Michael Autenrieth) und Singrolle
(Johannes M. Kösters) gespalten und wurde einem an die attische
Tragödie erinnernden Solisten-Chor mit einem Mezzosopran (ausgezeichnet:
Niina Keitel), quasi als Chorführerin, als Stimme der Verallgemeinerung
konfrontiert. (Auch hierfür stand Luigi Nonos Konzeption in
seinem „Prometeo“ wohl Pate).
Erzählt, oder besser in losen Worten angedeutet, wird der
letzte Tag dieses Fischers. Er blickt auf seine Welt der Enge,
der Armut, der Kälte, der Zermürbung, aber auch auf kleine
Schimmer der Hoffnung: etwa die entfernten Berge mit Schnee. Der
Chor führt aus anderer Warte, aus der des Totenreichs (die
Sänger steckten in weißer Festtagskleidung aus unterschiedlichen
Epochen) diese Gedanken fort. Es war ein ruhig fließendes
Hin und Her mit unentrinnbar schicksalhafter Tendenz. Piero steht
auf der Schwelle zum Tode, als Sprechender gehört er zu den
Lebenden, als am Schluss nur mehr Singender schon zum Reich des
Chores.
Hier aber mag man eine Schwachstelle des Stücks auszumachen.
Andersch erzählt die Geschichte des Piero in den Grauwerten
von dessen Welt. Scheinbar Nebensächliches formt sich zu einem
Ton der Enge, der Beschränkung, doch gerade dieser ganz eigene
Klang der Sprache lässt in nuce die ganze Tiefe der Welt aufscheinen.
Das Musiktheater ändert diese Fallhöhe. Der Text (Michael
Herrschel) isoliert die Worte von Andersch und gibt ihnen im Zusammenhang
mit der Musik ein Gewicht, das diese gar nicht anstreben. Verstärkt
wird dies noch durch von Herrschel ins Allgemeine getriebene, meist
dem Chor zugeordnete Passagen. Das aber sind bestenfalls assoziative
Gebinde, Tiefe meinend, aber kaum erreichend. Der philosophische
Raum entbehrt der inhaltlichen Basis, allenfalls der Gedanke an
einen sterbend zurückblickenden Menschen mag durchs Stück
leiten.
Verwaiste Gedanken
Das aber ist, nicht zuletzt im Angesicht der heftigen Reaktionen
der Musik, zu wenig. Die Gedanken mögen wandern, sind aber
vom Gehalt des Textes weitgehend allein gelassen, wirken verwaist.
So haben wir ein starkes und eindrückliches Musikstück
vor uns, das über Live-Elektronik den scharfen Oberton-Verästelungen
tief grundierter Töne in dialektischer Aufspaltung nachlauscht.
Wir haben ein stimmiges, in seiner Architektonik freilich nicht
gerade originäres Raumkonzept von Gunnar Hartmann (was Ausgangsidee
des Stücks war) und eine Regie (Katharina Thoma), die behutsam
die Stränge der Entwicklung assoziativ bebilderte. Die hervorragende
musikalische Leistung (nicht zuletzt auch des Chores) und die mit
massiv in die Tiefe gehenden Akzenten arbeitende Klangwelt litten
an einem nur wenig öffnenden, die Gedanken weitenden inhaltlichen
Pendant. Solche Kluften stimmig zu überbrücken aber wäre
Sinn eines Musiktheaterwerks.
Ergänzt wurde das Festival noch durch ein von Cornelia Melián
wandlungsreich vorgestelltes, die Sphäre der Frau umkreisendes
Projekt „One-Woman-Opera“ mit kurzen und spitzen Szenen
um Altersproblematik oder Shopping-Wahn von Carola Bauckholt, Charlotte
Seither, Irinel Anghel und Juliane Klein, durch eine ebenfalls
vierteilige Szenenfolge „Hin und weg“ der Hamel-Schüler
Felix Leuschner, Peter Nikolaus Häublein, Eunyoung Esther
Kim und Martin von Frantzius, deren durchweg düster pessimistische
Grundierung freilich kaum die nötige musikalische Tiefenschärfung
erfuhr und durch einen Blick auf altägyptische Totensprüche „Osiris“,
die freilich mit zurückhaltender musikalischer Unterfütterung
durch Günter Steinke allenfalls durch die fortwirkende Brisanz
des Textgehalts bestach. Daneben wurde das dreiwöchige Festival
von Orchester- und Ensemblekonzerten (unter anderem mit einer neuen
und ganz eigenwillig zwischen Tiefe und Humor changierenden Komposition
Helmut Lachenmanns, der Musik für Stimme und Klavier „GOT
LOST …“, oder der ausgezeichneten Aufführung von
Gérard Griseys „Les espaces acoustiques“ durch
das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks) nachhaltig bereichert.
Die Biennale 2008 hat nicht das Musiktheaterwerk der Zukunft
vorgestellt. Wir sollten uns von solchen Begriffen verabschieden,
denn mehr
denn je tragen Modelle nicht. Gelingen liegt in der Dialektik von
Individualität und den alle Sinne erfassenden Potenzen der
weit über die traditionelle Oper hinausweisenden Form. Aber
die Biennale hat vier radikale Positionen vorgestellt, ihnen Raum
gegeben und dadurch auch unser Bewusstsein geweitet, unsere Vorurteile
korrigiert.