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nmz-archiv
nmz 2008/06 | Seite 37
57. Jahrgang | Juni
Oper & Konzert
Polymorph und nicht-linear: Das Wunder als Betrug
Szenische Uraufführung der Braunfels-Oper „Szenen aus
dem Leben der heiligen Johanna“ an der Deutschen Oper Berlin
Walter Braunfels, der 1920 in München mit „Die Vögel“ einen
nachhaltigen Erfolg errang, schuf 1938–1942 seine letzte
Oper. Als „Halbjude“ diffamiert, lebte er in diesen
Jahren der inneren Emigration isoliert am Bodensee. Seine Jeanne
d’Arc-Oper verstand er als Ausdruck geistigen Widerstands
gegen die NS-Diktatur. Die französische Nationalheldin, die
allein der göttlichen Stimme gehorcht, betrachtete er als
Heilige und Vorbild. Gestützt auf die Prozessakten von 1431
schilderte der Komponist in seinem Libretto das bewegte, trotz
aller Widersprüche schließlich siegreiche Schicksal
des Bauernmädchens: Die Oper endet mit einem Wunder, das sie
als Heilige erkennen lässt.
Wunder gibt es oft bei Braunfels. Um so mehr erstaunte, dass
ausgerechnet Christoph Schlingensief mit der szenischen Uraufführung betraut
wurde. Er hatte schon 2004 in seinem Bayreuther „Parsifal“ Wundern
misstraut und knüpfte in der „Johanna“ daran an.
Hatte Schlingensief in Zusammenarbeit mit dem „Chaostheoretiker“ Carl
Hegemann damals den Gral von Mitteleuropa nach Afrika verlegt,
so wurde nun das heutige Asien statt des mittelalterlichen Frankreich
zum Hauptschauplatz. Der Regisseur war eigens nach Nepal gereist,
um dort rituelle Totenverbrennungen zu filmen. Wie damals in Bayreuth überlagerten
auch jetzt in der Deutschen Oper Berlin diverse Videoprojektionen
die Szene.
In Bayreuth hatte es sich 2004 um die subjektive Neuinterpretation
eines bekannten Werks gehandelt. In Berlin dagegen ging es jetzt
um die szenische Uraufführung einer vergessenen Oper, die
bislang nur konzertant erklungen war. Bei der Vorstellung eines
neuen Werks sollten eigentlich die Absichten des Schöpfers
berücksichtigt werden. Dieser hatte sich ausführlich
mit der historischen Jeanne d’Arc befasst, mit der er sich
identifizierte. Seine „Johanna“-Oper ist mit dem ebenfalls
autobiographischen „Mathis“ Paul Hindemiths verwandt.
Wo dieser Matthias Grünewald einbezogen hatte,
dachte der gläubige Katholik Braunfels an farbige Bilder aus
mittelalterlichen Stundenbüchern. In der Berliner Inszenierung
war davon wenig zu spüren. Kurzzeitig sichtbare Kirchenfenster
wurden sogleich durch Anspielungen auf andere Kulturen überlagert.
Pluralismus und Verfremdung dominierten.
Braunfels hatte wirkliche Menschen auf die Bühnen stellen
wollen. Die Berliner Inszenierung machte dagegen die Opernfiguren
zu Karikaturen. Der Johanna verweigerte sie ihren Helm und verlegte
sie vom Gefängnis in eine Krankenstation. Ihr Vater war kein
Bauer, sondern der heilige Nikolaus auf dem Rentierschlitten, der
dann zur dicken Larve wurde. Auch andere Personen waren nur schwer
zu erkennen, so Hohepriesterin und Inquisitor, die durch Zwerge
verkörpert wurden. König Karl VII. wurde in Reims nicht
gekrönt, sondern eingesargt. Die schon bei Braunfels komplizierte
Handlung machte das Schlingensief-Team fast undurchschaubar.
Der literarisch hochgebildete Komponist hatte sein dreiteiliges
Libretto mit den Begriffen „Berufung“, „Triumph“ und „Leiden“ überschrieben,
die seinem eigenen Werdegang korrespondieren. Er hatte sich eine
dramatische Oper vorgestellt, die am Schluss die überraschende
Wende bringen sollte. Inszeniert wurde jedoch bewusst undramatisch
ein nicht-linearer Rückblick. So stand die Totenverbrennung
nicht am Ende, sondern schon am Anfang. Die Filmbilder aus Nepal
zeigten aber nicht die Verbrennung einer Ketzerin, sondern einer
Gläubigen – es war kein historisches Ereignis, sondern
Sterbealltag in Nepal.
Angesichts der Erkrankung von Christoph Schlingensief hatte Carl
Hegemann mit den Regisseuren Anna-Sophie Mahler und Søren
Schuhmacher dessen Ideen aufgegriffen und weitergeführt. Hegemann,
der sich als Opfer des Paderborner Katholizismus versteht, deutete
nun die naiv-fromme Legende als versteckte schwarze Messe. Den
schon bei Braunfels düsteren Marschall Gilles de Rais machte
er vollends zum Satan. Dessen Gedanken aufgreifend wurde Johanna
zur blasphemischen Widersacherin Christi. Ihr Herz, ein zentrales
Utensil der Aufführung, trat an die Stelle des Kreuzes. So
sah man denn in einer provozierenden Filmprojektion viele Kruzifixe,
die auf den Müll geworfen wurden. Dann kam Leonardos Abendmahl
auf die Bühne mit Gilles de Rais als Judas.
Braunfels’ Musik besitzt zuweilen liturgischen Charakter
und oft dramatische Wucht, die gelegentlich die Grenzen der Tonalität
streift. Ulf Schirmer, der sich erstmals 2004 bei der Oper „Die
Vögel“ mit Braunfels auseinandergesetzt hatte, realisierte
mit dem Orchester der Deutschen Oper den sinfonischen Fluss, ließ aber
manches Detail, gerade im Pianobereich, unterbelichtet. Entsprechend
wirkte die dicht gearbeitete Partitur weniger interessant als bei
der konzertanten Aufführung. Glänzend und kraftvoll sang
Mary Mills die Titelfigur. Morten Frank Larsen, der als Totengerippe
den zwielichtigen Gilles de Rais verkörperte, stand dahinter
nur wenig zurück. Der Herzog La Tremouille (Lenus Carlson)
war als Berlusconi-Figur angelegt, der heilige Michael (Paul McNamara)
als Fundamentalist. Eine noch prominentere Rolle als in anderen
Braunfels-Opern spielten die Chorpartien, vom Chor der Deutschen
Oper sowie den Knaben des Staats- und Domchors makellos gesungen.
Im Gegensatz zur Musik präsentierte sich die Szene bewusst
als unfertig und roh, hatte doch Schlingensief die Inszenierung
nur von ferne verfolgen können. Trotz des pluralistischen
Ansatzes fehlte die eigentliche Botschaft der Oper, die Auseinandersetzung
eines gläubigen Menschen mit der NS-Diktatur, obwohl einmal
in einem Monolog vom Tausendjährigen Reich die Rede war. Allenfalls
gab es im Verlust des Raum-Zeit-Gefühls eine Parallele zur
isolierten Situation des Komponisten, seinem damaligen Aus-der-Zeit-Geworfensein.
Diese vage Offenheit schien das Premierenpublikum aber nicht zu
stören, sondern im Gegenteil zu faszinieren. Es spendete langen,
einhelligen Beifall wie schon lange nicht mehr bei Premieren der
Deutschen Oper Berlin. Tatsächlich hat Intendantin Kirsten
Harms mit dem Einsatz für dieses unbekannte Werk Mut bewiesen.
Als Gegenpol zu den Eskapaden des Regieteams hatte es zuvor ein
mehrtägiges Braunfels-Symposium gegeben, bei dem auch Frithjof
Haas, der Vertraute des Komponisten, seine abweichende Meinung
hatte vortragen können. Vielleicht wird er noch einmal eine
werkgerechtere Inszenierung erleben dürfen, in der – wie
etwa bei Messiaens Franziskus-Oper – Wunder auch auf der
Bühne als Wunder erscheinen.