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nmz-archiv
nmz 2008/06 | Seite 37
57. Jahrgang | Juni
Oper & Konzert
Die Passauer Musikszene gerät in Bewegung
Gekämpft und gewonnen: Festival für Neue Musik „Alles
im Fluss“ in der Drei-Flüsse-Stadt
Geld ist nicht das schlechteste Kriterium, um öffentliche
Wertschätzung zu messen. Acht Millionen Euro investiert das
von der Kulturstiftung des Bundes ins Leben gerufene Netzwerk Neue
Musik von 2008 bis 2011, um zeitgenössischen Werken endlich
einen angemessenen Platz in der Konzertwelt zu verschaffen. 120.000
Euro hätte die Stadt Passau im Südosten Bayerns als Sockelfinanzierung
aufbringen müssen, um weitere 280.000 Euro Fördermittel
für ein nationales Vorzeigeprojekt in Neuer Musik zu erhalten – und
ist damit offensichtlich überfordert. Nur durch das Engagement
eines privaten Bürgen schafft es das Festival „Alles
im Fluss“ der gebürtigen Passauer Geigerin Annette Reisinger
vom Kölner Minguet Quartett unter die 15 bundesweit geförderten
Projekte des Netzwerks Neue Musik – ein Start mit Hindernissen
...
Als dann noch die städtische Event GmbH als geplanter Veranstalter
einen kühnen Finanzplan aufstellt, nach dem von den insgesamt
400.000 Euro nur schäbige 150.000 für Künstlergagen übrig
geblieben wären, sind es wieder die Idealisten der Passauer
Kulturszene, die das Projekt nun bereits zum zweiten Mal retten:
Annette Reisinger schafft es, eine Koalition der maßgeblichen
Kulturschaffenden der Region zu schmieden und mit diesen einen
Verein zu gründen, der fortan das Vierjahresprojekt ohne die
städtischen Institutionen organisiert.
Die Notlösung erweist sich als Glücksgriff für „Alles
im Fluss“, das damit zum Festival für alle Spielarten
der Neuen Musik wird: Annette Reisinger bringt ihre Kompetenz auf
dem Feld der zeitgenössischen Klassik ein, der oberösterreichische
Jazzveranstalter und Labelinhaber Paul Zauner, der die bayerische
Szene seit Jahren außerordentlich bereichert, steuert Aspekte
der improvisierten Musik, des Jazz und der zeitgenössischen
ethnischen Musik bei. Damit wird zugleich eine starke Bindung des
Festivals an die Stadt und das Konzertpublikum erreicht:
Denn mit zwei herausragenden Bühnen im Scharfrichterhaus und
im Café Museum hat sich in diesem Jazzkontext ein offenes,
experimentierfreudiges und treues Publikum entwickelt, an das „Alles
im Fluss“ nahtlos anknüpfen kann. Was sich in der modernen
Klassik bislang eher als schwierig erweist – abgesehen von
den regelmäßigen und tapferen Versuchen der Festspiele
Europäische Wochen – gibt es hier keine Konzerttradition
in der Region.
Gnadenlos schlägt sich die verstörende erste Begegnung
mit dem fremden Klangkosmos schon beim Auftaktkonzert des Hauptfestivals
auf die Besucherreaktionen nieder: „Schwierig“, „anstrengend“, „wie
Versatzstücke“, „Gott sei Dank muss der nicht
vom Plattenverkauf leben!“, urteilen die Mitglieder der sogenannten „Spiegelgruppe“ – der
Neuen Musik eher fernstehende Personen, die das Festival bei freiem
Eintritt verfolgen und deren Eindrücke auch publiziert werden.
Die Organisatoren um Projektleiterin Elke Burmeister haben sich
mit der „Spiegelgruppe“ dafür entschieden, nicht
nur gegen die Vorbehalte des Publikums anzuspielen, sondern sie
offen zum Thema zu machen. Das ist manchmal schmerzhaft, aber auch
ehrenwert aufrichtig.
Dabei erweist sich die Programmierung der Konzerte bisher als überaus
klug: So stellt das Minguet Quartett zum Auftakt des Festivals
Wolfgang Rihms Streichquartett „Im Innersten“ Franz
Schuberts Streichquintett in C-Dur gegenüber. Wobei der gebürtige
Niederbayer Siegfried Mauser dem dankbaren Publikum vorab am Piano
Einflüsse und Parallelen zwischen den Werken demonstriert – auch
das en passant ein gelungener Versuch, das Festival regional zu
verankern.
Wie hier, so agiert Annette Reisingers Quartett auch im Schlusskonzert
unter anderem mit Jörg Widmanns „Jagdquartett“ und „Choralquartett“ sowie
Richard Strauss’ „Metamorphosen“ auf einem überragenden
Niveau, akkurat ausbalanciert, zupackend musikalisch, technisch
makellos. Ein gelungener Ansatz ist auch die Verknüpfung von
Passauer Komponisten des 17. und 18. Jahrhunderts mit zeitgenössischen
Werken beim Konzert des Ensembles Ars Antiqua Austria von Gunar
Letzbor, das ein ungewöhnlich erdig-duftiges Barockklangbild
pflegt. Zur Freude der Veranstalter siegen in der Publikumsgunst
nicht die alten Meister, der größte Jubel gilt tatsächlich
der „Sonata Carantana“ aus dem Jahr 2006 des Österreichers
Rudolf Jungwirth. Für den emotionalen Höhepunkt des Festivals
aber sorgt ein Improvisations-Trio im intimen Kellergewölbe
des Café Museum in der Passauer Altstadt. Der italienische
Akkordeonist Luciano Biondini, der niederländische Cellist
Ernst Reijseger und der französische Tubist Michel Godard
treten in ein musikalisches Gespräch, das nicht nur die natürlichen
Grenzen des eigenen Instruments überschreitet, sondern auch
ein dicht geknüpftes Ganzes zwischen italienischer Liedtradition
und Freejazz entstehen lässt.
So bietet „Alles im Fluss“ in seinem ersten Jahrgang
Neue Musik in unterschiedlichsten Schattierungen. Nach dem Hauptfestival
setzt sich die Improvisationsreihe in der Altstadt das ganze Jahr über
fort. Am 4. Juli wird die Passauer Kunstnacht zugleich zur Langen
Nacht der Neuen Musik, im November steht eine pädagogische
Projektwoche auf dem Programm. Und für 2009 planen die Organisatoren
zusammen mit Martin Steidler, Passauer Dirigent und Chordirektor
der Tiroler Festspiele in Erl, einen Schwerpunkt für zeitgenössische
Vokalmusik: Nicht nur eine erneute Erweiterung des musikalischen
Spektrums, sondern bei der regen Chorlandschaft in der Region auch
ein Garant für volle Konzertsäle.
Es ist in der Tat schon jetzt einiges in Bewegung geraten in
Ostbayerns Musikszene. „Alles im Fluss“ hat hart gekämpft – und
gewonnen.