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nmz-archiv
nmz 2008/06 | Seite 35-36
57. Jahrgang | Juni
Oper & Konzert
Punkte, Linien, Verzweigungen, Räume
Vierzig Jahre Wittener Tage für neue Kammermusik · Von
Gerhard Rohde
Vierzig Jahre sind eigentlich kein Jubiläumsdatum. Aber wenn
dabei die Neue Musik spielt, ist es doch erstaunlich, dass der
angeblich sperrige Gegenstand so viel Tradition anzusetzen vermag.
Also: die „Wittener Tage für neue Kammermusik“ feierten
in diesem Jahr ihren Eintritt ins fünfte Lebensjahrzehnt mit
einem farbigen, dicht gedrängten Programm und einer informativen
Ausstellung, in der Fotografien und Dokumente die geleistete Arbeit
noch einmal in die Erinnerung riefen. Eine nachträgliche Festschrift
ist in Vorbereitung.
Komponistin
mit Spieluhren: Rebecca Saunders. Foto: Charlotte Oswald
Die historische Korrektheit erfordert es, auch die Vorgeschichte
der Wittener Musiktage nicht zu unterschlagen. Sie begannen schon
1936 unter der Obhut des Wittener Komponisten und Dirigenten Robert
Ruthenfranz. Ab 1947 nannten sie sich Wittener Kammermusiktage.
Der entscheidende Schritt erfolgte dann 1969: Der Westdeutsche
Rundfunk trat als Partner der Kammermusiktage an die Seite der
Stadt Witten und ihres Kulturforums, von 1977 an gestalteten beide
Seiten gemeinsam die Kammermusiktage, die vornehmlich der neuen
und neuesten Musik gewidmet sind: Witten als Donaueschingen der
Kammermusik. Nach dem Tod von Ruthenfranz war der WDR-Musikredakteur
Wilfried Brennecke bis 1989 verantwortlicher Leiter, seither ist
Harry Vogt, ebenfalls Musikredakteur beim Westdeutschen Rundfunk,
für die inhaltliche Konzeption der Kammermusiktage zuständig.
Harry Vogt arbeitet wie ein personifizierter Seismograph. Unablässig
spürt er feinfühlig Entwicklungen, Veränderungen, ästhetische
Phänomene in der Neuen Musik auf. Was bewegt die jungen Komponisten,
wie sehen die etablierten Avantgardisten den „Fortschritt“,
den sie einst selbst initiiert haben? Welche Ausdrucksmittel dringen
gleichsam von außen in die Musik ein: Film, Video, Sprache,
Bewegungen? Was für neue Formen entstehen daraus? Jedes Jahr
entdeckt Harry Vogt mit seinen Mitarbeitern neue Tendenzen, die
er dann als Programmidee in die Wittener Musiktage einbringt. Neue
Werke werden dafür in Auftrag gegeben, ältere Kompositionen,
die derartige Entwicklungen bereits quasi vorausahnten, in das
Programm aufgenommen.
In diesem Jahr fiel Harry Vogt auf, dass viele Komponisten sich
wieder stärker für das interessieren, was man als „Linie“ bezeichnen
kann: „Alles dreht sich um Linien und ihre vielfältigen
Verzweigungen, ob horizontal oder vertikal, gerade oder gebogen,
kreisförmig, zwischen den Zeilen oder begrenzend“, so
schreibt Vogt in seiner Einleitung im Programmbuch und weist dabei
auf den Maler Wassilij Kandinsky hin, der die „Linie“ als „Spur
des sich bewegenden Punktes“ definiert, ähnlich wie
Paul Klee: „Ein Punkt, der sich in Bewegung setzt“.
Der Verweis auf die Malerei hilft auch in der Musik weiter. Schon
während der langen Phase, in der die Malerei die Abstraktion
bis zur Erschöpfung ausreizte, war einem bewusst, dass eines
Tages auch die ästhetische Frage nach einem neuen, veränderten
Realismus wieder aktuell werden würde. In der Musik der jüngeren
Vergangenheit beherrschte das vertikale Denken das Komponieren:
Der Klang wurde bis in die feinsten Verästelungen ausgereizt.
Das Melodische verschwand förmlich aus den Überlegungen,
ebenso das lineare Denken. Das wird inzwischen wohl als Defizit
begriffen, als Preisgabe legitimer, tradierter musikalischer Ausdrucksmittel.
Das Wittener Programm lieferte für die weitere Diskussion
reiches Anhörungsmaterial.
Wolfgang Rihm hat die Spannweite
gegenwärtigen Komponierens nie aus dem Blick verloren. Das
Lineare behauptet bei ihm eine zentrale Position. In Witten erklang
sein zwischen 2003 und 2008 entstandenes Stück „Male über
Male II“ für Klarinette und neun Spieler. Der Solist,
der unvergleichliche Jörg Widmann, legt fließend und
mit größter Expression seine melodischen Linien über
den von Harfen, Klavier, Schlagzeug, Viola, Celli und Kontrabass
hergestellten „Klangraum“, der wie ein Impulsgeber
für den Solisten wirkt. Dabei wird in der Korrespondenz von
Solist und Ensemble (Musiker des WDR-Sinfonieorchesters unter dem
souveränen Emilio Pomàrico) eine große Klangenergie
förmlich freigesetzt: Musik von höchster Innenspannung.
Ein Wechselspiel von subtil instrumentierten melodischen Lineaments
und klanglichen Impulsen bestimmt auch die Struktur von Mark Andrés
Ensemblestück „…es…“, entstanden 2008.
Eine Art Erkundungsreise zu unterschiedlichen „Klangorten“,
die sich vorsichtig tastend nach allen Seiten abzusichern versucht.
Es entsteht eine Musik von hoher Spiritualität, die nach den
Worten des Komponisten durchaus existentiell und metaphysisch verstanden
sein will. Mark André ist unter den jüngeren Komponisten
sicher derjenige, der der Musik diese transzendierenden Perspektiven
zurückzugewinnen versucht. Das Klangforum Wien unter Johannes
Kalitzke sicherte Mark Andrés Werk eine ebenso kompetente
Interpretation wie anschließend dem „Canon“ für
zwei Schlagzeuger und Ensemble „La Harpe de Mélodie“ von
Brice Pauset, in dem der Komponist Anregungen aus dem „Codex
Chantilly“ und dem südindischen Mridangam-System zu
einem Werk wunderbarer melodischer Beweglichkeit, rhythmischer
Leichtigkeit und eigener französischer Eleganz verarbeitet.
Zu den Phänomenen in der Neuen Musik zählt das ungebrochene
Verhältnis, das viele Komponisten zur traditionsreichen Gattung
des Streichquartetts pflegen: Papa Haydn ist unsterblich. Heinz
Holliger komponierte sein zweites Streichquartett, das in Köln,
Dieter Schnebel ein allererstes Streichquartett, das beim diesjährigen Éclat-Festival
in Stuttgart uraufgeführt wurde. Und bei den Kasseler Musiktagen
fanden sich gleich zehn neue Werke der Gattung zwischen Beethovens
Gipfelbesteigungen wieder. In Witten präsentierte das Arditti
Quartet zwei neue Streichquartette von Harrison Birtwistle und
von Brian Ferneyhough. Seltsamer Hintergrund bei Birtwistle: Auf
einer einsamen Insel vor der Westküste Schottlands, auf die
er sich zum Komponieren zurückgezogen hatte, entdeckt er,
dass sich an diesem Ort, wohl auf Grund früherer religiöser
Verbote, keine musikalische Tradition erhalten hat. In seinem „The
Tree of Strings“ – so der Titel nach einem Gedicht
des gälischen Dichters Sorley MacLean über die „Musik“ – versucht
Birtwistle nun nicht eine Rekonstruktion von etwas, wie es vielleicht
gewesen sein könnte, vielmehr erscheint seine Musik wie eine
Auftragsarbeit: der entmusikalisierten Region eine neue Musik aus
dem Geist der Gegenwart zu widmen. Die vier Arditti-Quartettisten
werden mit großer Eigenständigkeit auf eine Forschungsreise
geschickt, entdecken Klangräume, punktuelle Bewegungen, die
auseinander- und wieder zusammenlaufen, und führen alles zu
einer dicht komponierten, konzentrierten Form zusammen: eine halbe
Stunde Quartettkunst vom Allerfeinsten, Allerstärksten.
Der
Meister und sein Interpret: Harrison Birtwistle (re.) und
Irvine Arditti. Foto: Charlotte Oswald
Brian Ferneyhough benutzt in seinem Streichquartett „Dum
Transisset I-IV“ Musik des Renaissance-Komponisten Christopher
Tye, die er auf höchst eigenständige Manier für
sich adaptiert. Die vier Sätze – Reliquary, Totentanz,
Shadows, Contrafacta – betrachten die Vorlage nur mehr als
eine Art Steinbruch, als Impulsgeber für eine ganz neue, andere
Musik, blitzend vor Intelligenz und plastischer Formulierungskraft.
Bei den Darmstädter Ferienkursen im Juli wird das Arditti
String Quartet alle fünf Ferneyhough-Quartette in einem Marathon-Konzert
aufführen.
Der Drang zur „Linie“, der die dramaturgische Linie
des diesjährigen Witten-Programms dominiert, führt mitunter
auch ins Abseitige, wenn beispielsweise die „Linie im Kopf“ (Harry
Vogt) zu verlaufen scheint. Drei Komponisten – Nigel Osborne,
Jay Schwartz, Johannes Kalitzke – stützen sich in ihren
Kompositionen auf Texte aus der Prinzhorn-Sammlung, in der künstlerische
oder ähnliche kommunikative Äußerungen psychisch
Schwerkranker gesammelt sind. Solche Vorlagen in „Kunst“ zu übersetzen,
erscheint oft heikel, ein spekulatives Element ist nicht von vornherein
auszuschließen. Erst wenn man um die psychische Gefährdung
weiß, die sich oft tragisch mit einer extremen Kunstanstrengung
verbindet, gewinnt die „Übersetzung“ ihre Legitimation.
Hier ist Johannes Kalitzkes Metamorphose für vier Männerstimmen
und Akkordeon mit dem Titel „-inn Stufender sonderung“ das
sicher adäquateste Werk, komplex auch in seinen Ausdrucksmitteln
zwischen Sprache, Geräuschen (das Schreibgekratze auf den
Pulten der Vokalisten) und den sparsam gesetzten Einwürfen
des Akkordeons.
Die Wittener Tage hatten diesmal auch einen Composer in Residence
gekürt: die Engländerin Rebecca Saunders präsentierte
sich gleich in mehreren Veranstaltungen, zentral im Märkischen
Museum der Stadt Witten, wo sie in allen Räumen auf allen
Etagen ihre Komposition „chroma IX“ für Kammermusikgruppen
installierte. Nach einem exakt ausgeklügelten Zeit-und Auftrittsplan
erklingen in den Räumen, Kabinetten und im Entree die Instrumente,
als Solo, Duo, Trio. Auch Klangobjekte wirken mit wie ein Spieluhrenteppich
oder eine alte Schallplatte mit einem norwegischen Volkslied. Man
denkt dabei zunächst an ähnliche Raum-Musiken, wie sie
in der Moderne entwickelt wurden, auch an die früheren Wandelkonzerte,
in denen das Publikum mal hier, mal dort in einem Zimmer einer
Musik zuhört. Saunders nutzt das Haus mit seinen Räumlichkeiten
aber anders: als Einheit, die sie mit ihren Klangerfindungen verbindet.
Man wird dabei an Beat Furrers „Fama“ erinnert: die
Göttin Fama, die hoch oben zwischen allen Welten in einem
eisernen Haus mit zahllosen Öffnungen lebt und alle Geräusche
und Stimmen auffängt, die in der Welt entstehen. Furrer erfand
dafür einen großen Kasten mit vielen Lamellen, in dem
das Publikum sitzt und hört, wie die Musiker ihre Töne
und Klänge in den Kasten hineinprojizieren, eben wie bei der
Fama. Bei Saunders nun finden sich Klang-Hersteller und Zuhörer
in einem vielgliedrigen Haus vereinigt, stehen um die Musiker herum,
wandern hin und her, lauschen stehend aus einer größeren
Entfernung, vernehmen die Musik in steter Veränderung, je
nach der eigenen Position – eine Art Gesamtkunstwerk also,
das seine eigene Faszination besitzt. Rebecca Saunders‘ Klangphantasie
hat sich eine unverwechselbare Farbe geschaffen: den Saunders Sound.
Wie dieser hier durch das ganze Haus erklingt, wandert, punktuell
sich als eine Linie fortpflanzt, zärtlich schimmert und dann
wieder energisch auftrumpft, das besitzt eine eigene Klangmagie.
Das Genfer Ensemble Contrechamps agierte bei allem perfekt, meisterte
die räumliche Zersplitterung in kleine Instrumentalgruppen
souverän. Einige seiner Musiker wirkten auch bei einem Porträt-Konzert
mit, in dem Rebecca Saunders‘ „chroma fragments“ erklangen.
Im Gespräch mit Michael Struck-Schloen erwies sich Rebecca
Saunders als lebhafte, anschaulich erklärende Interpretin
ihrer Musik – aber das wusste man ja schon von früheren
Begegnungen. Ihr Konzertstück „company“ für
fünf Solisten, das in einem anderen Zusammenhang uraufgeführt
wurde, zeichnet eine äußerst klare räumliche Disposition
aus, die vom Anblick des Inneren einer Barockkirche angeregt wurde.
Mit dem Countertenor Kai Wessel, dem Trompeter Marco Blaauw sowie
Adrian Pereyra (E-Gitarre), Eric-Maria Couturier (Violoncello)
und Teodoro Anzellotti (Akkordeon) erlebte man eine glänzende
Darstellung des Werkes.
Witten im vierzigsten Jahr seiner modernen Zeitrechnung: Das
ist wie in der Vektorenrechnung – die Linien erstrecken sich
nicht nur in der Ebene, sondern recken sich wie Pfeile fächerartig
in den Raum, diesen erkundend und vermessend. Nicht alles kann
hier mit der eigentlich gebotenen Chronistenpflicht ausführlicher
beschrieben werden. In Witten spielt oft auch die Tradition der
Stadt mit: Wenn etwa in der zur Kulturstätte umgewidmeten
ehemaligen Zeche Nachtigall Künstler ihre Installationen und
Performances vorstellen. Der Schweizer Andres Bosshard und der
Vierteltonziehharmonikaspieler Srdjan Vukasinovitch schürfen
an einer Klangbaustelle tiefere Erdklangräume, Georg Nussbaumer
erkundet Schlot und Stollen der Zeche, lässt zum Beispiel
ein präpariertes Cello gegen die Stollenwand prallen und Nachtigallen
in Bäumen „singen“. Sehr poetisch alles.