[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz
2008/06 | Seite 7
57. Jahrgang | Juni
Bad Boy Of Music
Wer hat Angst vor Virginia Versatzstück?
Beim Lesen der jüngsten Ergüsse unserer deutschen Musikkritiker
kommt einem schon manchmal der Gedanke, ob die Verwendung des Wortes „Versatzstück“ ökonomische
Gründe hat – würde man es nämlich verbieten,
hätten viele Kritiken nur die halbe Länge, und man müsste
den Rest wieder mit Adornozitaten auffüllen … wenn die
Vorräte nicht langsam zur Neige gehen würden!
Bad
Boy Of Music
Natürlich ist „Versatzstück“ nur ein anderes
Wort für das, was der Musikkritiker Hänschen Neu vormals
gerne als „postmoderne Beliebigkeit“ abgegeißelt
hat. Hierbei gelingt ihm bei seiner eifrigen Versatzstückdeklarierung
das schriftliche Äquivalent des doppelten Ritt- oder auch
Schittbergers: Zuerst einmal kann er zeigen, dass er tatsächlich
in der Lage war, ein musikalisches Ereignis korrekt zu erkennen
und zu benennen – bravo, gut gemacht! Nun gut, musikalische
Fähigkeiten können ja bei mangelnder Verwendung langsam
verkümmern, man muss sich ihrer also wenigstens ab und zu
mal vergewissern. Zweitens kann er sich quasi en passant herablassend
darüber mokieren, wie bäh es doch ist, wenn der Hörer
plötzlich etwas bemerkt, das – indem es einen Bezug
zu einer schon existierenden musikalischen Sprache herstellt – aus
dem sonst vorherrschenden Anonymgeschrubbel hervorsticht. Man möge
meinen, dass das erstrebenswert sein könnte, schließlich
schreiben Schriftsteller ja auch nicht plötzlich in einer
nur wenigen Eingeweihten bekannten Geheimsprache, wenn sie etwas
Wichtiges zu erzählen haben. Aber nein – wenn es nach
Hänschen Neu geht, will man natürlich viel lieber in
gänzlich anonyme Klangwelten der Versatzstückvermeidung
vordringen.
„Hinterfragen“ wir doch mal diesen seltsam unbeholfen aus
der Theaterwelt entlehnten Begriff „Versatzstück“.
Der bedeutet nämlich eigentlich „versetzbares Teil der
Bühnenausstattung“, was natürlich nur schwer als
eine negative Eigenschaft aufgefasst werden kann, denn der Bühnenausstattung
Sinn und Zweck ist es ja, dass sie auch mal versetzt werden kann.
Wäre ja sonst ein bisschen fad auf der Bühne, wenn alles
immer stehen bliebe.
Mit „Versatzstück“ ist aber bei Hänschen
Neu alles gemeint, was Anverwandlung von Bekanntem ist, Allusion,
Variation, im schlechtesten Fall Klischee. Nun ist man die Neue-Musik-Klischees
wie endlose Tonumkreisungen und ewige Ankündigungsgesten,
denen dann nichts Geiles folgt, schon so leid, dass einem jedes,
aber auch wirklich JEDES andere Klischee lieber wäre, aber
das nur nebenbei.
Sicher kann Musik, die ewig schon Vorhandenes imitiert, auf Dauer
nicht lebendig sein – sowohl ein Großteil der Neuen
Musik wie auch der Popmusik sind ja das beste Beispiel dafür
(gelegentlich zucken beide noch ein wenig, wenn man sie kneift).
Aber wie lebendig ist Musik, die nur noch Kenntlichkeit vermeidet?
Schauen wir auch nur allerflüchtigst in die Musikgeschichte,
wird es uns schwer fallen, vollkommen isolierte und keimfreie Musikwelten
zu finden. Alles ist ein ständiger Austausch, ein faszinierender
Wirrwarr von einerseits abgenutzten wie vollkommen neuen Gesten,
Imitationen, Parodien und Stilkopien, dies alles oft in einem
einzigen Werk.
So fern von angewandter Sprachlichkeit ist die Musik ja nie:
Bei oberflächlicher Betrachtung sind es Aneinanderreihungen von
handelsüblichen Kadenzen, Volksmusikzitate und die Realisation
von aus der Mode gekommenen Tänzen, wenn man genauer hinschaut
sind es das d-moll-Klavierkonzert von Mozart, die „Winterreise“ von
Schubert und die Cellosuiten von Bach. Die Kenntlichkeit der „Versatzstücke“,
die all diesen Stücken innewohnt, ist nichts als ein Verständnisschlüssel
zu Türen, die zu wirklich neuen Regionen führen. Das
müssen die genannten Stücke nicht mehr beweisen, wenn
man es aber heute auf diese Weise versuchen möchte, schreit
immer irgendjemand das Unwort „Versatzstück“,
kaum hat man es mal auch nur einen Takt lang gewagt, etwas Verständlicheres
als „rpüpskumpfutzl“ zu komponieren.
Da offenbart sich die Willkür von Hänschen Neu: „Versatzstück“ ist
nämlich für ihn nur das, was er als Fremdkörper
deklariert und was seiner Meinung nach in einem „seriösen“ Neue-Musik-Kontext
nichts zu suchen hat. Die selbst gehegten und gepflegten Versatzstücke
(wie „rpüpskumpfutzel“, nicht zu verwechseln mit „rpäpskumpfutzel“)
sind dagegen für ihn unsichtbar, quasi aus Berufsblindheit.
Für ihn gibt es also ganz klar eine Trennung zwischen „guten“ und „bösen“ Versatzstücken.
Erstere sind es zwar, aber angeblich nicht, letztere ganz gewiss.
Kompliziert, kompliziert.
Aber Hänschen Neu, ist nicht alles, was auf dieser Erde so
herumwimmelt, ein einziges Versatzgestückel der immer gleichen
DNA, und sagt das nicht gleichzeitig absolut nichts über das
Leben selber aus? Beschreibe ich ein Theaterstück, wenn ich
allein darüber schreibe, welche Kulissen verwendet wurden?
Gebe ich einen Film korrekt wieder, wenn ich allein über isolierte
Szenen rede, aber nichts über die Handlung sage? Das Ganze
ist die Summe seiner Teile, Freunde, in der Musik wie in jeder
anderen Kunst auch. Wir lesen immer mehr darüber, wie die
Oberfläche klang, was da so schwurbelte und wurbelte und was
Hänschen Neu da so alles Tolles drin erkannt hat … aber
immer weniger darüber, um was es eigentlich ging!
Über vermeintliche Versatzstücke zu reden heißt – ganz
klar – weniger über Inhalte reden zu müssen. Würde
ja auch mehr Arbeit machen.