[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2008/06 | Seite 4
57. Jahrgang | Juni
www.beckmesser.de
Konkrete Utopie
Um den Begriff der „konkreten Utopie“, der im Umfeld
von Denkern wie Benjamin, Bloch, Marcuse und Adorno aufkam und
um 1968 zum Schlagwort einer kritischen Theorie der Kunst und Gesellschaft
befördert wurde, ist es seit dem Fall des Eisernen Vorhangs
still geworden. Die ihm innewohnenden Gedankenreste eines freiheitlich-utopischen
Kommunismus‘, Ausdruck einer säkularisierten Messiaserwartung,
haben ihre Überzeugungskraft im Westen verloren; im Osten
glaubte mit Ausnahme einiger dissidenter Enthusiasten sowieso keiner
daran. Heute geistern sie manchmal noch als Revolutionsromantik
durchs deutsche Musikfeuilleton oder durch ästhetische Bekenntnisaufsätze
heimatlos gewordener Linker.
Während solche Träumereien in der E-Musik, wo sie überwintern,
dazu beitragen, dass die Branche von Außenstehenden
als sympathisch-weltfremd belächelt wird, sind aus dem angeblich
dumpf profithörigen U-Musik-Bereich frischere, weniger ideologiebelastete
Gedanken zum selben Thema zu vernehmen. Die Veränderung des
schlechten Bestehenden wird hier ohne verschwiemelte Befreiungsrhetorik,
dafür mit umso mehr Praxisbezug und Realitätskenntnis
diskutiert. Zum Beispiel von Peter Gabriel, Mitbegründer der
legendären Popband „Genesis“, Videokünstler,
Pionier der digitalen Musikproduktion und engagiert in humanitären
Projekten aller Art. Bei der diesjährigen MIDEM in Cannes
gab er vor einigen Monaten einen Einblick in sein künstlerisch-politisches
Denken und wie er sich eine Veränderung der Welt vorstellt:
Nicht mit Rezepten aus dem 19. Jahrhundert, sondern auf der Basis
der heutigen Kommunikationsmittel und der herrschenden Marktmechanismen.
Für die Freunde sozialistischer Utopien mag das verwerflich
klingen, doch konkreter als ihre nostalgischen Träume sind
Gabriels Ideen mit ihrer Mischung von Zukunftsvision und Pragmatismus
allemal. Aus ihnen sprechen die Frische und Unvoreingenommenheit
eines im besten Sinn unternehmerischen Bewusstseins, das, ausgehend
von der Analyse der Realität, auch das scheinbar Unmögliche
zu denken wagt. Das wichtigste Mittel, um die Erste mit der Dritten
Welt zu vernetzen und die Millionen Unterprivilegierter in den
Ländern Asiens und Afrikas an eine bessere Existenz heranzuführen,
ist für ihn die Kommunikation. Genauer: das Mobiltelefon.
Es ist dort schon heute ein billiges Massenkommunikationsmittel.
Und er zitiert eine junge Kenianerin, die in einer Sendung der
BBC sagte: „Wir glauben nicht an das Rad und nicht an das
Feuer, aber mit dem hier werden wir es schaffen“, und dem
Interviewer ein Telefon in die Kamera hielt. Gabriel ist überzeugt:
Mit dem Mobiltelefon ließen sich zum Beispiel in ländlichen
Gegenden Bildung vermitteln und medizinische Hilfe leisten, das
System der Minikredite würde wirklich massentauglich, Migranten
könnten Geld nach Hause überweisen. Kinder, so Gabriel,
sind neugierig auf neue Technologien, seien sie noch so arm, und
wollen Teil dieser Welt werden, aus der sie bislang ausgeschlossen
blieben. Es liegt an uns, ihnen den Weg freizugeben, indem wir
sie unterstützen und zum Beispiel unser altes Telefon spenden.
Eine Utopie? Vielleicht, aber durchaus konkret. Manchmal lohnt
es sich, den U-Musikern gut zuzuhören.