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nmz-archiv
nmz 2008/06 | Seite 13-14
57. Jahrgang | Juni
Kulturpolitik
Die Idee des geistigen Eigentums als bürgerliches Relikt
Als Allgemeingut im Netz: die Werke Gustavo Becerra-Schmidts
sind „open
score“ · Von Wolfgang Martin Stroh
Sollen die Ergebnisse künstlerischer Kreativität künftig
der Allgemeinheit übergeben werden, ohne dass diese dem Schöpfer
dafür einen „angemessenen Lohn“ zahlt? Im Grunde
steht es jedem Künstler frei, sein Urheberrecht in klingender
Münze einzufordern oder eben dies nicht zu tun. Wie er im
letzteren Fall seine Brötchen und ähnliches finanziert,
bleibt allerdings ihm selbst überlassen. Die Diskussion über „creative
commons“ greift um sich. Der Umkehrschluss zur bisher mehr
oder weniger unangefochtenen These vom „Recht am geistigen
Eigentum“, den unser Autor Wolfgang Martin Stroh im folgenden
wagt, hat allerdings bisher nicht Schule gemacht. Stroh stellt
die Urheberrechtsdiskussion gewissermaßen von den Füßen
auf den Kopf, wenn er das seit mindestens 100 Jahren erkämpfte
Diktum vom „geistigen Eigentum“ radikal abschaffen
möchte. Der Text ist eine Rede Strohs, die er im Rahmen des „open
score project“ des Instituts für Musik der Universität
Oldenburg im Februar 2008 hielt. Ob mit einer radikalen Sozialisierung
aller „Kreativ-Produkte“ irgendjemandem gedient ist
(dem Rezipienten, der sich in der Regel über kulturelle Vielfalt
freut, der „bösen“ Musikwirtschaft, die hier ein
weiteres Mal mit Genuss zur Ursache allen Übels deklariert
wird oder aber dem Künstler selbst) sei dahin gestellt. Ein
wenig zu leicht macht Stroh es sich, wenn er sich in Zeiten zurückträumt,
in denen Komponisten dem Publikum ihre Musik überließen
mit der Bitte „dafür dankbar zu sein, indem Ihr mir
Kost und Logie bietet“. Und sein Mitleid mit den armen Komponisten-Kollegen,
die „noch an geistiges Eigentum glauben…“, mag
man als übertrieben werten. Die heftige Diskussion, die der
folgende Text allein in den Reihen der nmz-Redaktion ausgelöst
hat, tragen wir mit seiner Publikation in die Öffentlichkeit.
An einer wie auch immer gemäßigten oder provokanten
Beschäftigung mit der zukünftigen Behandlung der Urheberrechtsfrage
im Zusammenhang mit der Idee von „creative commons“ kommt
das Musikleben jedenfalls heute nicht mehr vorbei. bh
Hier
kann man kostenlos unveröffentlichte Werke herunterladen...
Der Komponist Gustavo Becerra-Schmidt stellt über die Internetplattform
www.becerra-schmidt.org alle seine nicht bei Verlagen erschienenen,
das heißt circa 150 Werke, kostenlos online zur Verfügung.
Im Archiv sind derzeit über 6.000 Notenseiten in gescannter
Form gelagert und weltweit abrufbereit. Neuere Werke können
auch als Datei im Format „finale“ abgerufen werden.
Das virtuelle Becerra-Schmidt-Archiv „gbs open score project“ ist
das erste seiner Art. Es macht Ernst mit der Globalisierung, die
das Internet ermöglicht und fördert ganz im Sinne des
politisch engagierten, seit 1973 im deutschen Exil lebenden chilenischen
Komponisten die Demokratisierung von Kunstmusik.
Stellen Sie sich vor, ein Nokia-Arbeiter oder ein Angestellter
der Deutschen Bank käme auf die Idee zu behaupten, die materiellen
Werte, die er schafft, seien sein Eigentum! Das wäre unvorstellbar – oder,
noch schlimmer, das wäre Kommunismus. Wir alle wissen, dass
die Idee, dem Arbeiter die Werte, die er schafft, tatsächlich
zuzusprechen, derzeit weltweit als unrealistisch betrachtet wird.
Als ebenso unrealistisch sollten wir heute die aus der frühbürgerlichen
Zeit stammende Idee eines „geistigen Eigentums“ betrachten.
Diese Idee liegt bekanntlich jenem Recht zugrunde, das heute
als Urheberrecht für die Gewinne der Musik-, Elektronik- und Verlagskonzerne
sorgt. Man kann die aktuellen Urheberrechte als eine Art Regulativ
für den Vertrieb von Musik betrachten. Dagegen wäre nichts
zu sagen, solange alle Beteiligten sich einig sind.
Problematisch wird die Angelegenheit dann, wenn man das Urheberrecht
auf eine Art Naturrecht des „geistigen Eigentums“ gründet.
Ich möchte kurz skizzieren, dass die Vorstellung eines geistigen
Eigentums eine historische und musik-feindliche Form falschen Bewusstseins
ist. Dazu muss ich kurz etwas ausholen: Wenn eine Schallwelle an
unser Ohr trifft, dann kann man fragen, ob dies Musik ist, was
wir hören. Musikanthropologen sind mit mir der Meinung, dass
der Schall Produkt einer menschlichen Tätigkeit sein muss,
dass diese Tätigkeit eine symbolische Art der Aneignung von
Wirklichkeit sein muss und dass diese Aneignung das Ziel haben
soll, das alltägliche Leben in irgendeiner Weise zu transzendieren.
Diese Definition von Musik gilt, wenn Sie kurz nachdenken, für
Opern, Filmmusik, Entspannungsmusik, außereuropäische
Kulte, Fußballgesänge, Karnevalslieder und so weiter.
Die abendländische Musikgeschichte ist eine interessante Abfolge
von Verdinglichungsprozessen dieser von Musikanthropologen apostrophierten
musikalischen Tätigkeit. Als Papst Gregor seinen Schreibern
die Melodielinien des Gregorianischen Chorals auf Pergament diktierte,
wollte er die in England und Germanien beliebte Praxis des volksmusikalischen
Feierns in den christlichen Kirchen unterbinden und aus einer lebendigen
musikalischen Aneignungstätigkeit einen verdinglichten Code
machen. Mit Erfolg übrigens, wie man sonntags in vielen Kirchen
hören kann. Als die ersten Kompositionen notiert oder als
die ersten Komponistennamen auf Papier geschrieben wurden, als
die Drucker sich für die Verbreitung von Liedern und Noten
sorgten und als Fürsten verbieten wollten, dass Werke ihrer
Angestellten einfach nachgespielt
wurden ... als all dies geschah, war jedes Mal ein leicht durchschaubares
politisches oder ökonomisches Interesse Pate eines fortschreitenden
Verdinglichungsprozesses musikalischer Aneignungstätigkeit.
Den krönenden Abschluss fand dieser Prozess im emphatischen
Kunstwerk des Bürgertums, das „der ganzen Menschheit“ gehören
sollte, jedoch nur gleichsam leihweise. Statt einfach zu sagen: „Ich überlasse
Euch meine Musik und bitte Euch, mir dafür dankbar zu sein,
indem Ihr mir Kost und Logie bietet“, musste sich der Komponist
auf die aktuelle Philosophie berufen, die das Naturrecht eines „geistigen
Eigentums“ erfunden hatte. Nun war die anthropologische Idee
der Musik als einer Aneignungstätigkeit durch eine materialistische
Ideologie überformt, die besagte, dass ein Komponist Eigentum
schafft – allerdings nicht, um dies alleine zu besitzen und
bei sich zu bewahren, sondern um dies Eigentum gegen Gebühr
der ganzen Menschheit auszuleihen. (Dieser Prozess wurde oft als
der Übergang von der Dienstleistungs- zur Warenproduktion
im Bereich der Musik beschrieben.)
Wir haben uns alle daran gewöhnt, den Lohn, den ein Komponist
für seine kompositorische Tätigkeit erhalten möchte,
als die Leihgebühr seines „Eigentums“ zu betrachten.
Dies ist in vielerlei Beziehung grotesk und nur als historische
Hilfskonstruktion verständlich. Das (geistige) Eigentum wird,
wenn es konsumiert worden ist, gar nicht verbraucht. Es verbleibt
immer noch beim Komponisten beziehungsweise seinem Rechteverwalter.
Es wird nur „genutzt“ und ist als Eigentum unveräußerlich, „unsterblich“.
Hier spiegelt sich die Ideologie des Geniezeitalters, der zufolge
Komponisten für die Ewigkeit schaffen, in quasi juristischer
Form wider. – Das geistige Eigentum ist aber realiter gar
nicht wirkliches Eigentum des Urhebers, sondern Rohstoff, mit dem
ein Verlag oder ein Musikkonzern weiterarbeiten kann. Unter welchen
Bedingungen ein Komponist sein geistiges Eigentum einem Verlag
oder Musikkonzern übergibt, ist keine Naturrechtsfrage, sondern
eine Machtfrage bei der Vertragsgestaltung. In der Regel sehen
diese Verträge ja vor, dass, sobald ein Komponist sein Werk
einem Verlag überantwortet hat, er nicht mehr tun und lassen
darf, was er will. Das Eigentum ist nicht mehr seines.
Wenn eine Idee historisch und keine Naturkonstante ist, dann
kann sie auch wieder verschwinden oder durch eine neue Idee aufgehoben
werden. Dazu bedarf es objektiver Voraussetzungen politischer, ökonomischer
und technischer Art. Dass Urheberrechte, die sich auf die Idee
des geistigen Eigentums berufen, beispielsweise im Bereich des
Patentrechtes zu weltweiten Katastrophen führen – man
denke nur an die Behinderung der Bekämpfung von AIDS! –,
brauche ich gar nicht zu erwähnen. Dass im Musikgeschäft
nur die allerwenigsten Musiker/-innen von Urheberrechten „profitieren“,
die meisten aber schon gar nicht auf die Ebene der Zirkulation
kommen, hat sich aber noch gar nicht so weit herumgesprochen. So
meinen selbst Garagen-Bands, es wäre auch in ihrem eigenen
Interesse, wenn ihre Werke geschützt wären. Das Gegenteil
ist der Fall, denn die Garagen-Band lebt nicht von den geschützten
Werken sondern von ihren Auftritten, sprich den musikalischen Dienstleistungen,
die sie in ihrem sozio-kulturellen Umfeld erbringt. Und dort tut
sie das, was Musikanthropologen so gerne sehen: sie eignet sich
und ihrem Publikum soziale Lebenswirklichkeit an und „transzendiert“ diese.
Die technische Entwicklung hat nicht nur ökonomisch und politisch,
sondern auch technisch der Idee des geistigen Eigentums den Boden
entzogen. Von der Erfindung der Buchdruckerkunst bis hin zu den
letzten Zuckungen der Musikverlage angesichts der erfolgreichen
Xerox-Kopierapparate waren die Komponisten aus technischen Gründen
an Druckereien und Verlage gekettet, die die Zirkulation ihrer
Musik bestimmten. Es gab also eine technische Hürde, die nur
von wenigen Musiker/-innen genommen wurde. Der Normalfall lautete: „Versuche
einen Verlag zu finden, und Du bist viel Ärger los und kannst
Dich dem Komponieren widmen!“ Dass dabei das geistige Eigentum
als Rohstoff in einen Verwertungsprozess eingegangen ist, merkt
dieser sorglos Komponierende spätestens dann, wenn die Jahresabrechnung
mager ausfällt, weil sich die Verwertung seines geistigen
Eigentums nicht gelohnt hat.
Die technische Hürde aus dem Zeitalter des Setzens, Druckens
und Xeroxkopierens von Noten ist heute dank Scanner, Notationsprogramme
und elektronischem Datenverkehr gefallen. Und es bietet sich die
gute Gelegenheit, auch den Begriff des „geistigen Eigentums“ fallenzulassen.
Das open score project, das das Institut für Musik der Universität
Oldenburg zusammen mit der Universitätsbibliothek im Februar
2008 eröffnet hat, zeigt, dass es auch ohne diesen Begriff
geht. Ich bin überzeugt, dass der Komponist Gustavo Becerra-Schmidt,
der hier die meisten seiner Werke kostenlos zum Download anbietet,
vorbildliche Aufklärungsarbeit im Dienste aller Kolleginnen
und Kollegen geleistet hat, die noch an geistiges Eigentum glauben
und mit ansehen müssen, wie dies Eigentum zum Rohstoff eines
entfremdeten Produktions- und Zirkulationsprozesses verkümmert.
Das Projekt verfolgt im Rahmen der aktuellen „open document
system“-Diskussion deutscher Bibliotheken und der „Göttinger
Initiative“ zum freien Publizieren wissenschaftlicher Texte
nicht nur den eigennützigen Zweck, dass die notierten Werke
eines zeitgenössischen Komponisten bekannt und gespielt werden.
Im Zentrum des Projekts steht für mich die ideologiekritische
und kulturpolitische Tat. Das kulturpolitische Ziel des Projekts
wäre erreicht, wenn Komponisten ihre Arbeit nicht mehr so
verstehen würden, dass sie geistiges Eigentum anhäufen,
sondern so, dass sie mit ihren kompositorischen Mitteln sich Wirklichkeit
aneignen und dadurch dazu beitragen, die Lebenswirklichkeit anderer
Menschen im eingangs erwähnten breiten Sinne zu transzendieren.