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nmz-archiv
nmz 2008/06 | Seite 12
57. Jahrgang | Juni
Kulturpolitik
Neues aus dem Grand-Tokio-Hotel-Abgrund
Urheberrecht als musikalische Warenkunde · Von Martin Hufner
Das Gezerre um die angemessene Vergütung von urheberrechtlichen
Leistungen will kein Ende nehmen. Seit einigen Jahren werden sogenannte
Körbe zum Urheberrecht gepackt. Teilweise sind Ergänzungen
und Korrekturen nötig, weil es Auflagen der europäischen
Kommission gibt, teilweise werden diese Anforderungen genutzt,
um weitergehende neue Ansprüche zu begründen.
Obstwein,
Wurst, Honig, Kunst: Theodor W. Adorno als Werbetexter
für einen Aufsteller im brandenburgischen Linum? Foto:
Martin Hufner
Dieses tat zuletzt ein „Offener Brief“, der im Namen
der Musikindustrie anlässlich des „Tages des geistigen
Eigentums“ direkt an die Bundeskanzlerin ging. Unterschrieben
haben ihn Dutzende der in der sogenannten Kreativwirtschaft tätigen
Autorinnen und Autoren. Speziell aus dem Bereich der E-Musik haben
ihn beispielsweise Wolfgang Rihm, Peter Eötvös und Lothar
Voigtländer unterzeichnet. In diesem Brief wurde behauptet,
dass „allein 70 Prozent des Internetverkehrs in Deutschland
auf die – leider meist illegale – Tauschbörsennutzung
entfallen. Aber während beispielsweise die milliardenschwere
Telekommunikationsindustrie massiv von der Nutzung illegaler Inhalte
profitiert, verweigert sie beim Schutz geistigen Eigentums die
Verantwortung.“ Kreativität sei das „Öl des
21. Jahrhunderts“ heißt es weiter: „Dahinter
verbirgt sich die Erkenntnis, dass die Kultur- und Kreativwirtschaft
schon heute und vor allem in Zukunft Motor für Wachstum und
Wohlstand ist. Ohne Musik und Hörbücher bräuchten
wir keine iPods, ohne Filme keine Flachbildfernseher, ohne Breitbandinhalte
keine schnellen Internetzugänge.“ Kreativität,
so muss man daraus schlussfolgern, ist kein Wert an sich, kein
Ergebnis menschlicher Tätigkeit, welches in erster Linie ästhetisch
gefasst wird, sondern sie ist allein als eine Funktion im Wirtschaftskreislauf,
ein Gefäß für andere Waren und sei es sie selbst.
Die Autoren des Briefes wünschen sich, dass die Fragen des
Urheberschutzes endlich zur Chefsache werden. Die Internetpiraterie
schädige vor allem Nachwuchstalente. „Langfristig wird
so die kulturelle und kreative Vielfalt in unserem Land abnehmen,
und wir verspielen eine unserer wichtigsten Zukunftsressourcen.“
Erstaunlicherweise hat die Chefin des Landes darauf sogar reagiert.
In einer Videoansprache versprach sie Hilfe. „Denn es geht
gerade um junge Künstlerinnen und Künstler, die noch
kein finanzielles Polster haben, um sich mit Raubkopien auseinandersetzen
zu können. Es geht darum, dass sie in jungen Jahren die Chance
haben, den gerechten Lohn für ihre Leistung zu bekommen“,
so Bundeskanzlerin Angela Merkel. Nicht beantwortet sie die Frage,
was der gerechte Lohn sei, und ebensowenig erteilt sie Auskunft,
wer für diesen Lohn aufkommen solle. Barrieren des Zugangs
seien zu errichten, und „das Herunterladen von Computern
ist eine Sache, vor der nationale Grenzen nicht schützen können“.
Auch in der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ ist
man auf das Thema Urheberrecht und Verwertungsgesellschaften eingegangen.
Dort spricht man etwas differenzierter die Empfehlung aus: „Das
Urheberrecht soll ihnen [den Rechteinhabern] die verfassungsmäßig
garantierte angemessene Vergütung garantieren.“ Ferner
soll der Bundestag „die Interessen der Rechteinhaber in den
Mittelpunkt von Gesetzesänderungen im Urheberrecht“ stellen
(S. 266). Doch auch die Enquete-Kommission hat einen engen Begriff
von Kreativität. Zum Thema „Wert der Kreativität“ heißt
es im Bericht: „Kulturgüter, also Bücher, Noten,
Bilder, Filme und so weiter haben einen Doppelcharakter: Sie sind
zum einen ein Gut, welches gehandelt wird, haben also einen Warencharakter;
sie haben zum anderen einen ideellen Wert, da sie die Vergegenständlichung
einer Idee sind“ (S. 259). Nur, wie weit kann man damit auch
Kunst noch erfassen, deren „Wert“ essentiell ein anderer
sein sollte, der sich nicht auf die Gleichung Wurst = Honig = Heu
= Kunst reduzieren lässt. Leerstelle!
Adorno sah diese Verkürzung des Kunstbegriffs in seiner „Ästhetischen
Theorie“ voraus: „Mit der fortschreitenden Organisation
aller kulturellen Bereiche wächst der Appetit darauf, der
Kunst ihren Platz in der Gesellschaft theoretisch und wohl auch
praktisch anzuweisen; ungezählte round table-Konferenzen und
Symposien sind darauf aus. … Da die verwaltungstechnische
Expansion mit dem Wissenschaftsapparat von Enquêten und Ähnlichem
fusioniert ist, spricht sie jenen Typus von Intellektuellen an,
die zwar etwas von den neuen gesellschaftlichen Necessitäten
spüren, nichts aber von denen der neuen Kunst. Ihre Mentalität
ist die jenes imaginären bildungssoziologischen Vortrags,
der den Titel tragen sollte: ‚Die Funktion des Fernsehens
für die Anpassung Europas an die Entwicklungsländer‘.“ Der „Offene
Brief“ trägt diesen imaginären Vortrag in die Realität.
Dadurch, dass man in all diesen Entwicklungen um die Ausarbeitung
des Urheberrechts ihren Warencharakter so zentral stellt, verdirbt
man es sich tatsächlich mit der Kunst. Dass dies nicht die
einzige Alternative sein muss, zeigt Wolfgang Martin Strohs Beitrag
auf Seite 13, wenn er das Open-Source-Projekt des Komponisten Gustavo
Becerra-Schmidt vorstellt.
Adorno warnte in seiner „Ästhetischen Theorie“ ausdrücklich
davor, auf die Frage nach der Kunst mit der Betonung ihrer Notwenigkeit
zu antworten: „Die Frage danach ist falsch gestellt, weil
die Notwendigkeit von Kunst, wenn es denn durchaus so sein soll,
wo es ums Reich der Freiheit geht, ihre Nicht-Notwendigkeit ist.
An Notwendigkeit sie zu messen, prolongiert insgeheim das Tauschprinzip,
die Spießbürgersorge, was er dafür bekomme“,
schreibt Adorno später in seiner „Ästhetischen
Theorie“. So müssen sich die Komponisten Rihm, Eötvös
und Voigtländer fragen lassen, ob sie nicht mit einer Unterschrift
unter den „Offenen Brief“ an die Kanzlerin insgeheim
der Idee der Auflösung von Kunst in Ware ausdrücklich
zustimmen – quasi als das Tokio Hotel der Neuen-Musik-Kreativitäts-Öl-Musikindustrie.