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nmz-archiv
nmz 2008/06 | Seite 1-2
57. Jahrgang | Juni
Leitartikel
Neu sticht
Wenn es um kühnen Paradigmen-Wechsel im Bereich des primitiv
Begrifflichen geht, ist der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) immer
eine gute Adresse. Sein „Bildungs-Fernsehen“, das dritte
Programm, hat er schon längst zur gern besuchten Endlagerstätte
optimal volksdümmlicher Musik ausgebaut. Auch die Klang-Avantgarde
erfährt eine radikale Neu-Deutung: In seiner Massenfunk-Produktion
namens „Jump“ kündigen penetrant duzende Moderatoren-Pärchen
die nächste Audioschleimspur von „Ich & Ich“ oder
von Christina Stürmer vorzugsweise als „neue Musik“ an.
Womit vermutlich auf höchst zeitgenössische Weise dem
Kulturverständnis unserer prosperierenden „Creative
Industries“ Rechnung getragen wird.
Die einst qualitätvoll und kompetent besetzte – und
seit einiger Zeit verwaiste – Redaktion für zeitgenössische
Musik bei „MDR-Figaro“ gerät – das
ist dann schon wieder konsequent – dem Vernehmen nach zur
Sozialstation für einen Ex-Orchesterdirektor ohne sonderliche
Sachkenntnis. MDR-Intendant Udo Reiter hatte sich – damals
noch Hörfunk-Chef des Bayerischen Rundfunks – als engagierter
Juror in Sachen Klangexperiment ausgewiesen. Er diffamierte die
Ausstrahlung komplexerer Percussions-Kompositionen auf seinen Wellen
scharf als quotenkillenden Abschalt-Grund.
Soviel zunächst zum Bewusstseinszustand zahlreicher öffentlich-rechtlicher
Meinungsmacher; welcher – ob nun schlicht ignorant oder plump
berechnend – längst auch „konventionellere“ Bereiche
ernsthafter Kulturberichterstattung übersieht oder missachtet.
So darf man sich im Fernsehen, egal ob erstes oder zweites Programm,
regelmäßig bei allen nur erdenklichen Degenerations-Darbietungen
in mental niedergebrannten Musikantenstadel-Ruinen oder Eurovision-Song-Contest-Puffs
gebührenfinanziert zu Tode amüsieren.
Durchaus attraktive aber eben etwas anspruchsvollere „Events“ wie
etwa der Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“ finden
in den selbsternannten visuellen Leitmedien kaum statt. Mag ja
sein, dass sie unterhalb der Wahrnehmungsschwelle einer vom Global
Glamour geblendeten TV-Macher-Netzhaut liegen. Da dienen wir uns
gern als populismus-ausfilternde Taucherbrille an. Empfehlen einen
Blick auf ebenso attraktive wie verantwortungsbewusste Jugend-musiziert-Innovationen:
Es handelt sich dabei, liebe abgesoffene öffentlich-rechtliche
Programmaten, um eine – sorry – schon bald fünfzig
Jahre alte Nachwuchs-Bildungsmaßnahme, die bei bestem Blick
für Qualität vor allem das – pardon – individuell
abgestimmt pädagogisch Vernünftige kundig bewertet. Dank
gut gebildeter Menschen in zivilgesellschaftlichen Gremien. Mit
dem Erfolg, dass Ihr Eure Tele-Rüssel noch morgen wahlweise
auf dem Ausschnitt oder dem Gesäß ehemaliger Preisträgerinnen
und Preisträger weiden lassen könnt, vorausgesetzt, sie
erfüllen Eure strengen Glamour-Kriterien.
Diese Innovation bewegt sich freilich genau in die entgegengesetzte
Richtung von allem, was subventionierte Programmaten dafür
halten: Sie fördert das allseits öffentlich Unberücksichtigte.
Verfemte Musik, Klassik, von Frauen komponierte Musik, ganz neue
Musik, den Kontakt zwischen Ensembles und Komponisten. Schade,
was? Das Ganze findet in Freiburg
und Münster im September statt – (da habt Ihr Landes-Studios) – und
es heißt: WESPE, Wochenende der Sonderpreise. Lasst es sausen.
Und Eure Controller sollen Hornissen in jedwede Kniekehle stechen.
Denn auf einen Kopf mit Herz darf man bei Öffentlich-Rechtlichen
kaum noch hoffen.