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nmz-archiv
nmz 2008/06 | Seite 6
57. Jahrgang | Juni
Magazin
Streiter, Weggefährte, Ratgeber und Freund
Der Musikschriftsteller Ulrich Dibelius ist gestorben · Von Reinhard
Schulz
Eine private Rückschau, gut 40 Jahre zurück, die vielleicht gar
keine private ist. In der Provinz fernab von fast allem zeitgenössischen
Musikgeschehen (bei mir war es nahe der tschechischen Grenze in ländlicher,
oberfränkischer Umgebung) war man weitgehend abgeschnitten. Der Musikinteressierte
hörte von Geschehnissen, die das Publikum empörten und die die Hüter
der „guten alten“ Werte auf den Plan riefen. Der Rundfunk bot freilich
manches, zwar versteckt, in Bayern geschah es am Montag spätabends zwischen
23 und 24 Uhr, aber immerhin. Hier waren die merkwürdig aufrührerischen
Klänge zu hören, die die Gemüter erhitzten. Und man bekam kurze
und schlüssige Anmerkungen zu dem Wie und dem Wollen dieser Komponisten.
Dass Ulrich Dibelius damals der Redakteur war, der diese Wochenstunde fürsorglich
betreute, erfuhr man freilich allenfalls am Rande. Doch man wurde an der Hand
genommen, vieles erschloss sich auf einmal als ebenso notwendiger wie spannender
Eingriff in unser von der unseligen Geschichte verhärtetes Musikdenken.
Und dann gab es auf einmal ein Buch: „Moderne Musik 1945–1965“,
erschienen 1966. Der Autor war der 1924 in Heidelberg geborene Musikschriftsteller
Ulrich Dibelius.
Biograph
der Moderne: Ulrich Dibelius. Foto: Sabine Witt
Auf viele wirkte es wie ein Befreiungsschlag. Denn Dibelius verstand es wie
kaum ein anderer, den komplexen Stoff dem Leser so klar und anschaulich,
so sprachlich fein, genau und gleichzeitig tief und ohne den Gestus der Anbiederung
näher zu bringen, dass sich auf einmal eine neue Welt erschloss. Sprach
man damals mit Interessierten oder Gleichgesinnten, dann argumentierte man
mit den Überlegungen, den Rück- und Ausblicken von Ulrich Dibelius.
Hier war einer, so spürte man, der mit Liebe und zugleich mit tiefem Verständnis
für die Sache der zeitgenössischen Musik kämpfte – ohne
Verhärtungen, offen, ohne Dogmatik und immer zum eigenen Denken und Weiterdenken
anregend. Ein Feld war geöffnet, auf dem man weiterarbeiten konnte. Die
Sackgasse, die viele in der Neuen Musik erblickten, war keine mehr. Möglichkeiten
für eigenes Arbeiten taten sich auf, denn das Buch von Dibelius war eines
zuallererst: Es war Anstoß auf höchst profunder, genau und präzise
gedachter und bestürzend klar ausformulierter Basis. Und wenn ich eingangs
schrieb, dass meine Erfahrungen vielleicht gar nicht so privat waren, dann
fand ich nun dafür Bestätigung. Denn viele junge Menschen, denen
die Neue Musik ein Anliegen war, hatten eine ganz ähnliche Entwicklung
anhand des Leitfadens von Dibelius erlebt. Staunend erfuhren wir, dass wir
durch Dibelius zu einer begeistert eingeschworenen Gruppe geworden waren, ohne
dass einer den anderen gekannt hätte.
Dann, nach dem Studium (das damals nach 68 ein tief aufwühlender, von
den gesellschaftlichen Widersprüchen geprägter Prozess mit vielen
Wegwendungen von der „reinen“ Musik war), lernte ich plötzlich
beim Bayerischen Rundfunk Ulrich Dibelius (dort arbeitete er als Redakteur
für Neue Musik von 1957 bis 1987) persönlich kennen. Diverse Kritiker
und auch Vorkämpfer der zeitgenössischen Musik hatte man damals ja
schon kennen gelernt und immer wieder nahm man auch eine gewisse Arroganz wahr,
so als wüssten die Koryphäen mit dem Sicherheitsvorsprung des Sachwissens
genau bescheid, wo es mit der Musik lang ging. Und da war plötzlich so
ein ganz anderer Mann: bescheiden zuhörend, Argumente und auch Unsicherheiten
intensiv wahrnehmend und ganz behutsam eingreifend oder korrigierend – gerade
er, der doch mehr als die meisten anderen die verschiedenen Entwicklungsstränge
verfolgte und kritisch begleitet hatte. Eines muss ja ein Musikkritiker vor
allem anderen beherrschen: Er muss genau zuhören können. Dibelius
lebte diese Eigenschaft wie kaum ein zweiter vor und er beschränkte diese
Fähigkeit nicht nur auf das Hören von Musik, sondern schloss auch
das Wahrnehmen von Meinungen, so diffus sie auch sein konnten, mit ein.
Vielleicht war das sogar das Wichtigste, das ich oder das wir von Dibelius
lernten. Natürlich profitierten alle von seinem Wissen, seinen Erfahrungen,
seinen Einschätzungen. Aber noch viel nachhaltiger war, dass vorgetragene
Argumente von dem stets diskutierfreudigen, kämpferischen Geist sogleich
auf Schwachstellen abgeklopft wurden, die er einem dann zum nochmaligen Überdenken
zurückgab. Denn auf eines reagierte Dibelius empfindlich und seine Milde
konnte dann in Schärfe umschlagen. Er mochte keine vorschnellen, keine
leichtfertig getroffenen Urteile. Die aber waren damals gang und gäbe.
Es war ja, auch wenn das etwas verkürzt dargestellt ist, damals in den
70ern und 80ern ziemlich einfach. Man musste nur eine musikalische Phrase hören,
die irgendwo noch nach Tonalität klang, und schon stand das öffentliche
Verdikt fest. Gegen solche Leichtfertigkeit des Urteils war Dibelius empfindlich,
ebenso gegen das lax Formulierte, wo der dahinter stehende Gedanke mit den
Worten nicht mitkam. „Warum haben Sie das so gesagt oder geschrieben“,
erkundigte sich Dibelius immer wieder und brachte einen damit nicht selten
in Verlegenheit. Denn man musste sich mitunter eingestehen, dass man einfach
auf den Zug allgemeinen Urteilens aufgesprungen war, dass man der Musik nicht
intensiv zugehört hatte, sondern schnell die Schranken des Vorurteils
geschlossen hatte. (Als ich ihm einmal über die Saarbrücker Uraufführung
von Helmut Lachenmanns Tubakonzert „Harmonica“ im Jahr 1983 berichtete – Dibelius
war ausnahmsweise einmal nicht vor Ort gewesen – und anmerkte, dass es
sich wohl um einen schwächeren Lachenmann handele, mahnte er nur: „Urteilen
Sie niemals so vorschnell!“ Dieser Rat blieb mir immer im Gedächtnis,
denn unwillkürlich fühlte ich mich ertappt.) Und die Sprache von
Dibelius bei seinen Beurteilungen zeigte auf, wie schön, wie intensiv
eine musikalische Einschätzung in Worte zu fassen sein kann. Hierin war
er Meister. Und er akzeptierte durchaus auch von seiner Meinung abweichende
Beurteilungen, wenn man nur mit fundierten Beobachtungen aufwarten konnte.
Tat man dies, dann schlossen sich nicht selten die anregendsten Diskussionen
und Erörterungen an. Denn das liebte Dibelius: die streitbare, in die
Tiefe gehende Auseinandersetzung, nicht um mit der eigenen Meinung Recht zu
behalten, sondern um die Sache durch unterschiedliche Blickwinkel oder Perspektiven
zu bereichern.
Ulrich Dibelius war eigentlich überall vor Ort an den Stätten, wo
es um Neue Musik ging – über viele Jahrzehnte war er hier gleichsam
feste und unverzichtbare Größe. Eines stellte sich dabei bei ihm
nie ein: die Verurteilung neuer kompositorischer Ansätze, auch wenn sie
seinen Vorstellungen von dem Gang der Musik und ihrer Ästhetik vielleicht
widersprachen. Bei vielen kritischen Beobachtern des zeitgenössischen
Musiklebens, auch bei vielen Interpreten musste man diese Verhärtung gegenüber
dem ganz Anderen beobachten. Diese Alterseinschränkung ließ Dibelius
für sich nicht zu. Wohl hatte er das uneingeschränkte Vertrauen in
die Jugend mit ihren Aufbrüchen wie auch den (notwendigen) Irrwegen bei
seinem väterlichen Freund Karl Amadeus Hartmann gelernt. Das Neue hat
das nirgendwo zu beschneidende Recht auf den Gang ins Unbekannte. Nur das unsauber
oder nicht konsequent Gedachte war, genauso wie in der musikalischen Kritik,
zu hinterfragen oder anzumahnen. Und sah er ein, dass die Überlegungen
der Jugend nicht mehr in sein Wertesystem einzuordnen waren, dann beobachtete
er sie im Stillen und hielt sich mit abschätzigen Bemerkungen zurück.
Eine solche Haltung aber beweist ebenso Mut gegenüber sich selbst als
auch Bescheidenheit. Dibelius gab hierfür immer ein hervorragendes Beispiel.
Verständniswege hin zum Neuen zu suchen und das Schaffen aus diesem Verständnis
heraus kritisch fördernd zu begleiten, war ihm zeitlebens oberstes Anliegen.
Aus diesem Geiste heraus entstanden auch seine Bücher. Dem Buch „Moderne
Musik 1945–1965“ ließ er zwanzig Jahre später einen
zweiten Band folgen, der schließlich noch bis in die 90er-Jahre hinein
ergänzt wurde. „Den folgenden Band müssen andere schreiben“,
meinte er lächelnd, als man vor wenigen Jahren bei ihm um eine Fortsetzung
ansuchte. Mit dem Blick aufs Wesentliche, auf das innige Verständnis sind
denn auch seine Bücher über den nur ein Jahr älteren Komponisten
und Freund György Ligeti (1994) oder sein Buch über den väterlichen
Freund Karl Amadeus Hartmann (2004) entstanden. Doch auch zu Mozart, Schubert
und (als Herausgeber) zu Schönberg oder zu musiksoziologischen Fragen
(„Musik auf der Fluch vor sich selbst“, „Verwaltete Musik“ und „Neue
Musik im geteilten Deutschland“) und zu vielen weiteren Aspekten hat
Dibelius tiefgehende Überlegungen angestellt. Auch unserer Zeitung, der
nmz, war Dibelius über viele Jahrzehnte freundlicher und kritischer Ratgeber,
und bei der Spezial-Zeitschrift „MusikTexte“ fungierte er von Beginn
an als Herausgeber.
Dieses gewaltige Lebenswerk entstand stets auf der Basis, dass Musik immer
im Dienste an der geistigen Entwicklung des Menschen steht und stehen muss.
Dibelius war Freund in umfassendem Sinne – und er war bis zum Schluss
Streiter für die Sache. Und als er vor drei Jahren mitteilte, dass er
in den kommenden Jahren nicht mehr nach Donaueschingen zu den Musiktagen komme,
die er über vierzig Jahre begleitet hatte, da wusste man betrübt:
Er hatte für sich seinen Kreis ausgeschritten. Man begegnete ihm weniger
und vermisste ihn umso mehr.
Ulrich Dibelius starb am 27. April 2008. Die Neue Musik wird ihren steinigen
Weg weiter gehen. Aber ihre Schritte werden etwas andere sein, da ihr ein
kundiger Gefährte fehlt.