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nmz-archiv
nmz 2008/06 | Seite 15
57. Jahrgang | Juni
Forum Musikpädagogik
Von der Komplexität einer grundlegenden Musikalisierung
Gemeinsames Symposium des Arbeitskreises Elementare Musikpädagogik
und der Landesakademie Ochsenhausen
Viereinhalb Jahre ist es her, dass sich die Elementare Musikpädagogik
zuletzt auf einem großen Symposium der Öffentlichkeit
präsentierte. „Gestaltungsprozesse erfahren – lernen
lehren“ lautete damals in Stuttgart der sehr EMP-spezifische
Titel und wurde an einem inhaltlich wie künstlerisch sehr
dichten Wochenende auch in beeindruckender Weise eingelöst
(siehe nmz 12-03/1-04). „Musik bewegt Kinder“ hört
sich da schon ganz anders an: allgemeiner, offener, werbewirksamer.
Das kommt nicht von ungefähr, hatte sich beim Ende April veranstalteten
3. Symposium des „Arbeitskreises Elementare Musikpädagogik
an Ausbildungsinstituten in Deutschland“ (AEMP) doch eine
Kooperation mit der baden-württembergischen Landesakademie
in Ochsenhausen und damit ein noch stärker als in Stuttgart über
das eigentliche Fach hinausgehendes Zielpublikum ergeben.
Neben dem nicht zu unterschätzenden logistischen Vorteil – die
Akademie mit Direktor Klaus Weigele und seinem Team war nicht nur
organisatorisch eine perfekte Gastgeberin – brachte diese Öffnung
auch eine willkommene Weitung der Perspektiven für das Fach
EMP und seine Anwendungsbereiche. Im Vordergrund standen dabei
die allgemein bildenden Schulen, von deren Aktivitäten die
meisten der nicht unmittelbar aus dem Fach kommenden Referenten
berichteten. Das hieß freilich auch, dass sich Studierende
und in der EMP Tätige mitunter in Veranstaltungen wiederfanden,
die wenig oder gar nichts mit ihren Arbeitsprinzipien zu tun hatten.
Dennoch dürfte es lohnend gewesen sein, Einblicke etwa in
das erfolgreiche Modell der „Singeklassen“ am Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium
Eppelheim zu erhalten (Ralf Schnitzer), wo das Singen (verbunden
mit relativer Solmisation) den Ausgangspunkt des Musikunterrichts
insgesamt darstellt, nicht zuletzt aber mit dem Ziel, semiprofessionelle
Chorergebnisse hervorzubringen. Oder in das Pilotprojekt „Jedem
Kind ein Instrument“ der Hamburger Hochschule für Musik
und Theater, dessen Präsentation „etwas Klarheit in
die derzeit diffuse JeKi-Gemengelage“ (Christoph Schönherr)
zu bringen versuchte.
Schade, dass im JeKi-Pionierland Nordrhein-Westfalen der Kompetenz-Vorsprung
einer anderen Hochschule für die Durchführung des Riesenvorhabens
nicht genutzt wird. Was Claudia Meyer und Ulrike Tiedemann von
der Kölner Musikhochschule aus ihrer Praxis an zwei Kölner
Schulen berichteten und praktisch demonstrierten, war jedenfalls
dazu angetan, der nicht unbegründeten JeKi-Skepsis einigen
Wind aus den Segeln zu nehmen. Klar wurde dabei aber vor allem,
dass es sorgfältiger, praxiserprobter und zeitaufwändiger
Modelle im Zusammenspiel von Elementar- und Instrumentalpädagogik
bedarf, um – in diesem Fall – mithilfe von Streichinstrumenten
eine echte Musikalisierung in der Primarstufe zu erreichen. Ob
dies in gleicher Qualität wirklich flächendeckend realisierbar
ist, bleibt die Frage, die über Sinn oder Unsinn der JeKi-Euphorie
entscheiden wird.
Ä
hnlich komplex stellt sich die Situation an der Clara-Schumann-Grundschule
in Leipzig dar, wo in der Verzahnung von Ganztagsbetreuung, Musikschule
und psychologischer Beratung „eine ganz andere Ganztagsschule“ (Johanna
Metz/Regina Pauls) mit einem anspruchsvollen Fächerkanon entstanden
ist, der von den Schülern mit enormer Lernfreude angenommen
wird. Der Workshop von Insuk Lee, der seine Arbeit mit einer 2.
Grundschulklasse am „lebenden Objekt“ mit unnachahmlicher
Frische und Natürlichkeit demonstrierte, und Hartwig Maags
Konzept einer „moving music“ als Alternativangebot
zum Musikunterricht in den Jahrgangsstufen 3 und 4 veranschaulichten
weitere Impulse, die aus EMP und Rhythmik in die Schulen hineinwirken
könnten. Und in die Seniorenarbeit, wie Barbara Metzger an
den sorgfältig geplanten und die verschiedenen Bedürfnisse
berücksichtigenden Musizierstunden für 5- bis 9-jährige
Kinder und Erwachsene ausführte, die Studierende und Dozentinnen
der Würzburger Musikhochschule in einem Wohn- und Pflegeheim
durchführten.
Jule Greiner wiederum zeigte Wege auf, wie in der Grundschule
verschiedenartige Musikstile mit ebenso vielfältigen Möglichkeiten des
Musikhörens verbunden werden können. Die Erfahrung von
Parametern wie Melodierichtung, Form oder Klangfarbe durch Bewegungsimitation
wurde anhand eines Gitarrenstücks von David Qualey demonstriert,
das assoziative Hören mit Ravels Pavane aus „Ma mère
l’oye“. Dabei bewahrte ein Perspektivwechsel mittels
der Vorgabe, die Assoziationen anderer nachzuvollziehen und zu
begründen, vor vagen „filmmusikalischen“ Fantasien.
Eine Tabelle mit zusätzlichen Vorschlägen zur Aktivierung
und Beschreibung anhand konkreter Literaturbeispiele öffnete
den Blick auf weitere mögliche Handlungsfelder.
Ein ähnliches Thema hatte sich Barbara Stiller vorgenommen,
bei ihr bezog sich das Motto „Bewegt gehörte Musik“ aber
eher auf das konzertpädagogische Feld. Eine „Bach-Gymnastik“ zum
dritten Satz des E-Dur-Violinkonzerts, eine Mitspielmusik zum ersten
Menuett aus der Mozart’schen Haffner-Serenade oder Astor
Piazzollas „Tango apasionado“ mit vier unterschiedlich
agierenden Zuhörer- beziehungsweise Mitspielgruppen waren
Beispiele dafür, wie aus Unterrichtsprinzipien der EMP neue
Konzertformen erwachsen können. Die spannende Frage nach dem
Verhältnis zwischen strukturellem und assoziativem Hören
war im Anschluss an die praktische Demonstration naturgemäß Gegenstand
kontroverser Diskussionen.
Neben dem, wohl auch von der Akademie Ochsenhausen als Mitveranstalterin
für ihre Zielgruppe intendierten Schul-Schwerpunkt, zeigte
der Kongress also viele weitere Facetten der EMP und ihre Schnittmengen
mit anderen Disziplinen. So machte Charlotte Fröhlich in ihrem
Workshop deutlich, dass die Arbeit mit ADHS-Kindern sich nicht
inhaltlich von der mit „normalen“ Kindern unterscheiden
muss, dass aber, insbesondere in gemischten Gruppen, auf deren
oft kurzräumigere Zeitgestaltung Rücksicht zu nehmen
ist und diese fantasievoll in musikalische Gestaltungen integriert
werden kann. Renate Reitinger stellte in ihrem Vortrag die Fähigkeiten
von Kindern im Vorschul- und Grundschulalter im Bereich des Erfindens
und Vorstellens von Musik in den Mittelpunkt. Und Elisabeth Gutjahr
zeigte auf, warum der Umgang mit Polaritäten ein entscheidender
Schlüssel für künstlerische Erlebnisfähigkeit
sein kann. Das Ausloten von Extremen, etwa in Dynamik oder Tempo,
und die Kunst der Übergänge dazwischen gehört somit
zum Kernbestand elementarer Gestaltungen und kann auch ganz allgemein
als Grundprinzip instrumentaler oder vokaler Interpretation angesehen
werden.
Diese Form der Abstraktion vom praktischen Tun und die theoretische
Reflexion trat in Ochsenhausen im Vergleich zum Stuttgarter Kongress
2003 etwas in den Hintergrund, und so war es Michael Dartsch vorbehalten,
mit seinen „Gedanken zu einer Didaktik grundlegender musikalischer
Bildungsarbeit im Kleinkindalter“ einen weiteren Bogen zu
spannen: Ausgehend vom Philosophen und „Lebenskunst“-Kolumnisten
Wilhelm Schmid und seiner Unterscheidung in verwaltende, gestaltende,
orientierende und gelassene Lebensführung, sieht Dartsch die
Musik als eine Kunst an, die eine besonders große Reichweite
innerhalb der Kultur besitzt, weil sie für all diese Formen
der Lebensführung Muster bereitstellt. Über die Lehrperson
lernt das Kind also im besten Falle auch Muster des Lebens mit
Musik kennen. Die Didaktik zielt in Dartschs Augen auf vier Aspekte
des Lernens: Grunderfahrungen, Differenzierung der Fühl-,
Denk- und Verhaltensmuster, kulturelles Material und das Einbringen
von Eigenem folgten einer Reihe von Prinzipien, etwa der Orientierung
an Spiel und Prozess, der Intermedialität und der Körper-
und Beziehungsorientierung.
Nachdenkenswerte Aspekte erbrachten auch der Eröffnungsvortrag
der FAZ-Bildungsredakteurin Heike Schmoll und die wie stets ebenso
fundierten wie unterhaltsamen Ausführungen Eckart Altenmüllers
zum Singen und Musizieren als „zweites menschspezifisches
Kommunikationssystem“. War sein Referat bei aller Begeisterung über
das Hören als lernfähigstem Sinn, das die meisten Umschaltstationen
im Gehirn aktiviert, vor allem als Plädoyer für eine
von vordergründigen Rechtfertigungszwängen befreite Beschäftigung
mit Musik zu verstehen, so bettete Heike Schmoll dies in den größeren
Zusammenhang aktueller Bildungsdiskussionen ein. Gerne hörte
man ihr dabei zu, wie sie die Verwechslung von Bildung und Ausbildung
anprangerte, die Zerlegung von Bildung in Schlüsselqualifikationen
und inhaltsleere Arbeitsmarktkriterien aufspießte und dies
anhand der Abschaffung des Bildungsziels Lesefreude zugunsten von „Texterfassungskompetenz“ samt
der damit einhergehenden „Dominanz von Gebrauchstexten“ exemplifizierte.
Die daraus zu ziehenden Konsequenzen für den schulischen Musikunterricht
waren weniger scharf umrissen, klar wurde aber in jedem Fall, dass
die „Musik in Zeiten des Bildungsutilitarismus“ – so
der Titel ihres Vortrags – Gefahr läuft, für die
Zwecke wirtschaftskompatibler Durchlauferhitzer missbraucht zu
werden.
Allgemein vermisst wurden hochklassige künstlerische Beiträge
von Studierenden, wie sie aus Stuttgart noch so eindrücklich
in Erinnerung waren. Eine Uli-Führe-Uraufführung, vom
Kinderchor „SingsalaSing“ unter Friedhilde Trüün
kompetent bewältigt, ein Auftritt der hochklassigen Musikkabarettisten
von „Tango Five“ und das Abschlusskonzert mit „Body
Sounds“ und „Fiasco Classico“, letztere von den
Mitmachaktionen ein wenig in den Hintergrund gedrängt, konnten
das aber zumindest ein Stück weit kompensieren. Die EMP aber
ist, so scheint es, ihrem Ziel, sich einen festen Platz im Zentrum
der musikpädagogischen und bildungspolitischen Diskussionen
zu erobern, wieder ein gutes Stück näher gekommen.