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2008/06 | Seite 9
57. Jahrgang | Juni
Praxis: Konzertvermittlung
Der Musik ihre Körperlichkeit und Intensität zurückgeben
„Zukunftskonzert“ – ein Symposium in Wolfenbüttel
beschäftigt sich mit Musikvermittlung und Aufführungskultur
Das Publikum von Konzerten mit klassischer Musik wird älter.
Seit langem bestehende Konzertreihen werden wegen schrumpfender
Nachfrage eingestellt. Der Arbeitsmarkt für die von den Hochschulen
im Übermaß ausgebildeten Instrumentalisten und Sänger
verengt sich bei gleichzeitig sinkenden Einkommen. Die Hörerzahlen
klassischer Kulturprogramme fallen. Der Tonträgermarkt boomt
nicht mehr so wie in früheren Zeiten. Gründe für
die Krisenmeldungen werden gesucht und Abwehrstrategien entwickelt.
Das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und
Kultur hatte zu einem zweitägigen Symposium in die Bundesakademie
für kulturelle Bildung nach Wolfenbüttel eingeladen.
Experten aus Theorie und Praxis, also Wissenschaftler, Veranstalter,
Künstler, Produzenten und Verbandsvertreter referierten und
diskutierten über Musikvermittlung und Aufführungskultur.
Sie hatten vor allem das als Motto vorgegebene „Zukunftskonzert“ im
Visier. Aus mancherlei Bestandsaufnahmen entstanden dabei hoffnungsvolle
Utopien, sodass sich der Krisenhimmel aufhellte. Die Devise zum
Schluss könnte lauten: „Das Konzert ist tot – es
lebe das Konzert!“
Platzkonzert
mit dem Schlagzeugtrio der Braunschweiger Musikschule im
Schlosshof Wolfenbüttel. Foto: Rainer Surrey
Selbst die Phonoindustrie hat ein probates Mittel gegen den Absatzschwund
gefunden. Vor allem bei den Majors setzt sie auf frisch entdeckte
und dann mit geballten Verkaufsstrategien vermarktete Stars – erinnert
sei nur an die Sängerin Anna Netrebko oder den Pianisten Lang
Lang. Da dürfen Kassen wieder klingeln, doch muss das nicht
zwingend mit einer intensivierten Musikvermittlung und einem Plus
an Aufführungskultur verknüpft sein. Es kann durchaus
mit gemindertem künstlerischen Einsatz und eingeengter Repertoirepolitik
gekoppelt sein. Einige besonders sensible Interpreten haben dagegen
gehalten. Sie wehren sich gegen die Vereinnahmung durch die globalen
Tonträgerriesen, gründen wie Jordi Savall oder Ton Koopman
ihr eigenes Label oder wechseln wie Andreas Staier zu einer zwar
kleineren, doch hinsichtlich der künstlerischen Resonanz wagemutigeren
Firma.
„Übergewöhnliche
Konzertstätten“ als Modell
Die Konzerte mit klassischer Musik wurden von den Wolfenbütteler
Referenten aus unterschiedlichen Perspektiven untersucht.
Der Lüneburger Stadtsoziologe Volker Kirchberg sondierte die
verschiedensten Veranstaltungsorte. Er entwickelte das Modell einer „übergewöhnlichen
Konzertstätte“, was nicht zwangsläufig gewöhnliche
Präsentationsformen ausschließt. Schon jetzt stellt
sich bei der in Hamburg entstehenden Elbphilharmonie aber die Frage,
wie dieser Raum mit 3.000 Plätzen künftig täglich
gefüllt sein wird. Stadtplaner und Politiker ficht das kaum
an. Sie wollen vor allem einen Imagemotor zünden und mit einem
architektonisch attraktiven Aushängeschild gegen urbane Konkurrenten
punkten.
Es geht freilich auch anders, wenn außerhalb der üblichen
Konzertsäle mit ihrer aus dem 19. Jahrhundert stammenden bürgerlichen
Feierlichkeit und den damit einhergehenden Sprechverboten und Kleidungsvorschriften
Spielstätten in Planetarien, Einkaufszentren, Sportstadien
und sogar in städtischen Problembereichen gesucht und genutzt
werden. Wird dann sowohl auf die festgefügten Sitzreihen als
auch auf den erstarrten Programmkanon von Ouvertüre, Konzert
und Sinfonie verzichtet, können Konzerte zu ganz haptischen
Ereignissen werden. Peter Schleuning pointierte Alternativen zu
den festgefahrenen Standardisierungen. Er wies auf die experimentelle
Anfangsphase der bürgerlichen Musikkultur mit ihren bunt gemischten,
zugleich zwangloseren Programmen hin. Der Theaterwissenschaftler
Jens Roselt stellte sich vor allem performative Momente des Konzertes
vor. Er erinnerte an John Cages 1952 vom Pianisten David Tudor
in Woodstock uraufgeführtes „4’33’’ und
rückte diese beispielhafte Urperformance auf eine Ereignis-,
Erlebnis- und Teilhabeebene mit Smetanas „Die Moldau“ oder
dem Aufmarsch eines Spielmannszuges. Musik insgesamt einschließlich
ihrer auf herkömmlichen Tonträgern nicht speicherbaren
Hervorbringung mit Bildern und Gesten bestimmt das Konzert.
Die Krise des Konzerts als
Krise der Präsenz
Einmal auf die Fährte der Performance gesetzt, konstatierte
Matthias Rebstock, derzeit Juniorprofessor für Szenische Musik
an der Stiftungs-Universität Hildesheim, dass die Krise des
Konzerts eine Krise seiner Präsenz sei. Stillsitzen und Zuhören
haben Konzertbesucher zwar domestiziert, doch negiert diese im
klassischen Konzert eingefahrene Rezeptionshaltung die Körperlichkeit
von Musik und verbirgt deren Präsenz. Letztere und damit die
Intensität des Musikerlebens könne nach Rebstock durch
vier Mittel gesteigert werden: Auratisierung, Spiritualisierung,
Visualisierung und Performatisierung beziehungsweise Theatralisierung. „Die
Musik ist aber für den Menschen, und nicht der Mensch für
die Musik,“ resümierte der hannoversche Musikethnologe
Raimund Vogels. Er hatte zuvor das in fünf Phasen gegliederte
Begräbnisritual der nigerianischen Burra veranschaulicht und
mit einem europäischen Klassikkonzert verglichen. Für
Vogels stellt manches europäische Konzert die Kognition vor
die Emotion und verliert so die Nähe zum schützenden
Ritual.
Zum Nachdenken über das Zukunftskonzert gehören statistische
Untersuchungen der gegenwärtigen Konzerte und ihres Publikums,
auch der ausgebildeten Musiker und ihrer späteren Verwendung
im Arbeitsmarkt. Heiner Gembris von der Universität Paderborn
berichtete nicht nur über den Anstieg der Konzerte, sondern
auch über die rückläufigen Besucherzahlen. Besonders
das kaum nachwachsende jüngere Publikum macht besorgt und
muss das Nachdenken über verstärkte Vermittlung intensivieren.
Gembris folgerte daraus, dass die wichtigsten Personen, die sich
um Vermittlung und Akzeptanz von Musik kümmern, die Musiker
selbst seien. Diese müssen sich ihre eigene Existenz sichern – für
manche Musikhochschule ein deutliches Signal, nicht nur auf Oktavritter,
Tastenlöwen und Preisträger zu setzen, sondern die Ausbildung
der jungen Künstler auch auf die Befähigung zur Vermittlung
auszurichten.
Gezielte Dramaturgie
als Ausweg
Dank gezielter Dramaturgie eröffnen sich ganz neue und attraktive
Felder für die inhaltliche und organisatorische Gestaltung
von Konzerten. Markus Fein, seit einigen Jahren künstlerischer
Leiter der Sommerlichen Musiktage in Hitzacker und seit einem Jahr
Intendant der von der Niedersächsischen Sparkassenstiftung
veranstalteten Niedersächsischen Musiktage, vergleicht sich
gern mit dem auch um die Hängung von Bildern beschäftigten
Kurator einer Kunstausstellung. Sein künstlerisch fundiertes
Marketingkonzept zehrt vom Vertrauen auf unendliche Möglichkeiten
und erprobt Jahr für Jahr neue Formen. Im August 2004 wurde
Luigi Nonos Streichquartett „Fragmente – Stille. An
Diotima“ in Hitzacker mit Madrigalen von Luca Marenzio gemischt.
Im Herbst 2006 geriet das Publikum in einer Göttinger Lokomotivhalle
beim „Experiment Geschwindigkeit“ in das Spannungsfeld
von Zeit, Tempo und Entschleunigung. Im August letzten Jahres erlebte
das Hitzacker-Publikum, wie in einer Installation von Daniel Ott
Klänge von siebzig Bläsern um die Zeit des Sonnenaufgangs
vom Elbufer zum Weinberg wanderten – ein abschließendes
Frühstück im Freien war inbegriffen. In diesem Jahr geht
es am Sonntagvormittag in den Dötzinger Forst, wo die Nationalsozialisten
ein weit verzweigtes unterirdisches Tanklagersystem für rumänisches
Erdöl einrichteten. Mauricio Kagels „Zehn Märsche
um den Sieg zu verfehlen“ und Rudolf Mauersbergers Trauermotette „Wie
liegt die Stadt so wüste“ werden die passende Musik
in den Betonruinen sein.