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nmz-archiv
nmz 2008/06 | Seite 41
57. Jahrgang | Juni
Noten
Kampf der Knöpfe mit Winden und Böen
Virtuoses und jazziges Balgen auf dem Akkordeon – eine aktuelle
Literaturempfehlung
Horst Lohse: „Turm der Winde“ für Akkordeon-Orchester
(2005).
Edition Gravis, EG 970
Die Dosierungen und Verästelungen des Spielwindes in ihren
unendlichen Varianten samt den beiden Windrichtungen beim Akkordeonspiel
könnten Horst Lohse, auch Freund antiker Mythen, inspiriert
haben, eine Komposition für Akkordeon-Orchester als Beschreibung, „Be-tonung“ der
typisch griechischen, auch in der Mythologie verankerten Windcharaktere
einschließlich ihrer Strömungsrichtungen zu schaffen.
Mit „Atmungen – Beatmungen“ von Clemens Kremer
wurde Ton- und Geräuschmalerei über gasförmig Strömendes
für siebzehn Akkordeons und Elektronium 1970/71 schon vorgegeben,
vielleicht für dieses Windinstrument begonnen. Horst Lohse
gelang mit dieser achtsätzigen, etwa siebzehn Minuten dauernden
Komposition ein Wurf, bei der besonders die Differenziertheit in
der Ausführung besticht.
Kennzeichnend dafür ist die zwölfstimmige Anlage der
Komposition mit geteilten Stimmen für Akkordeon eins bis vier,
zwei Bassakkordeons sowie als farbliche Belebung und für besondere
Aufgaben Elektronium eins und zwei. Deshalb ist zur Realisierung
auch abzuwägen, ob die jeweils einfache Besetzung jeder Stimme
in kammermusikalischer Art zu Gunsten der klanglichen Transparenz
und Agilität gegenüber der orchestralen Mehrfachbesetzung
nicht die bessere Alternative wäre.
„Zephyros“, der warme, milde Westwind, zeigt schon im ersten
Satz sein vielgestaltiges Naturgesicht: Aus allmählichem Erspüren
eines Windhauches mittels eines dreitönigen Terz-Sekund-Motivs
in verschieden imitierenden Varianten zu Minimalböen im „dolce“-Ausdruck
und nur zwei kurzen Forte-Ausbrüchen aus dynamischer Entwicklung,
beziehungsweise aus einem General-Sforzato, bleibt die feingliedrige
Mildheit dieses Windes die dominierende Aussage. Kurzböig,
mit unvorhersehbarem Verlauf geriert sich der sagenhaft böse
Mann „Skiron“, der seine Gäste mit Fußwaschung
lockend die Klippen hinunterstürzt, als robuste Westwind-Variante,
vielakzentuiert und eher mit oberen Lautstärken gezeichnet,
so abrupt einsetzend wie auch wieder in die Stille enteilend.
Der Nordwind am Ägäischen Meer – „Boreas“ – liest
sich als scharfer Geselle mit beißenden Ausreißern,
die mit kleinclustrigen Bellow-Shakes-Stellen verwirklicht scheinen.
Er geht abklingend zu abwärtsgerichteten Legato-Achteln über,
hin in eine längere Endphase aus statischen Klängen mit
beschließenden Strömungs-Geräuschen aus der Luftklappe.
Das vielköpfige und vielfüßige Ungeheuer der griechischen
Mythologie, Typhon, dessen Kampf mit Zeus, der den Ätna auf
das Monster schleudert, gebiert den wilden, destruktiven Nordostwind „Kaikias“.
Dieser Hintergrund bildet sich in diesem vierten Satz ab, der mit
vielen Sforzati, Synkopen, Balgschüttelphasen aus Tönen
wie Luftgeräuschen und Balgpochern in wuchtigem 2/2-Takt aus
zentrifugaler Kraft daherkommt. Der zartere Südostwind „Apeliotes“,
in individuell agierenden leisen Stimmen ausgedrückt, verhaucht äolsharfengleich
vor leisestem Luftgeräuschende. In Sechzehnteln und Achteltriolen
kräuselnd ist bei sparsamem Gebrauch der Bassakkordeonlage
der Ostwind „Euros“ zu hören, der sich mit einem
rasch aufblähenden ff-Schwall verabschiedet.
Der südwindliche „Notos“ legt sich verspielt ins
Geschehen: Das sonst beim Zusammenmusizieren lästige Klappern
aus ungenauen Einsätzen wird hier gezielt durch verschieden
unterteilte Schläge über die Stimmen hinweg etwa mit
gleichzeitigen Achtel-Triolen gegen Sechzehntel gegen solche in
Quintolen und Sextolen erzeugt. Die Elektronien erzählen zwischendurch
das Lied des Notos‘. Schließlich hat der Südwester „Lips“ noch
das Sagen. In Staccato-Zweiunddreißigsteln, stellenweise
quintolisch, piekst er quer durch die Stimmen seine Ziele. Die
kleine Coda – mit „quasi senza mesura“ überschrieben – entlässt
die Winde im Turm unruhig flatternd ins „Diminuendo al morendo“-Ende.
Turm der Winde ist ein markantes Werk für Akkordeonensemble,
fordert hohe Fähigkeiten der Instrumentalisten/-innen im Bereich
der Balgtechnik und auf dem Manual eins, rhythmische Genauigkeit
sowie musikalische Reife – eine reizvolle Aufgabe auch für
gute Dirigenten/-innen. Als Gradmesser mag das Spitzenensemble
der Uraufführung (2005), das „Nürnberger Akkordeon-Orchester
Willi Münch“ unter Stefan Hippe, herhalten.
Klaus Paier: „Tango For Five“ für Bandoneon und
Streichquintett, mcv 1632.
„Three + Four“ für Akkordeon und Streichquintett,
mcv 1634.
„Scenes“ für Akkordeon und Streichquartett, mcv
1631.
„Invencíon 1998“ für Akkordeon und Streichquartett,
mcv 1630.
„Tres sentimientos“ für Akkordeon und Streichquintett,
mcv 1633.
Musikverlag Christofer Varner, München
Der österreichische Akkordeonist und Komponist Klaus Paier
leuchtet mit seinen Kompositionen die jazzige Seite des Akkordeons
aus. Ausgebildet am Klagenfurter Konservatorium in Jazz und Komposition
ließ er sich in seinen Stücken von Keith Jarret, Bill
Evans, Charles Mingus und Thelonious Monk inspirieren, bleibt formal
in Manchem der Tradition verbunden, nicht ohne dem Improvisatorischen
Raum zu lassen. Allgemeine Attribute dieser Kompositionen sind
bei Vorherrschen des Vierermetrums ein – wenn auch noch so
latenter – Bezug zum Tangohaften einschließlich dessen
Impro-Element, zur metrischen Gestaltung durch Akzente und dem
Drive durch die Unterlage von oft akzentgetriebenen Achtel-,
Sechzehntel- oder schnelleren Viertelkaskaden.
Das Akkordeon, beziehungsweise Bandoneon, umgibt sich in seiner
Behandlung manches Mal mit einem argentinischen Flair, das sich
im klanglichen Streichergegensatz profiliert. „Tango For
Five“ kann in gewisser Weise als Referenznummer herhalten.
Das Bandoneon solistisch, im rechts-links-Unisono, in zweistimmiger
Polyphonie oder – balgsensibel in seinem Element – als
akkordische Begleitungsschläge in akzentuierten Synkopen,
macht sein Ding auf einem Streichersound, der arteigen scharf wie
pp-lieblich Paroli bietet. Erwartend, man hätte es mit „Three
+ Four“ mit einem Siebener-Metrum zu tun, pulsiert der Vierer
mit einem nahezu ostinaten Rhythmusmotiv aus vier Sechzehnteln
mit anschließender Sechzehntelpause vor drei Sechzehnteln
und weiteren taktergänzenden Sechzehntelgruppen durch das
Stück. Dieser Baustein erscheint im Unisono wie in Verzahnung
zwischen Akkordeon und Streichern ohne vordergründige Melodiewirkung
mit Ausnahme eines in Phrygisch einzugrenzenden Improvisationsteils,
der eher Riff-like sich anbietet.
Das Akkordeon wird ausschließlich auf dem Manual eins gespielt.
Virtuos-wirkungsvoll stellen sich die „Scenes“ im Vierviertel
bei 240er- und 140er-Tempo dar. Achteltriolen in unterschiedlicher
Aufteilung als vorherrschendes Element durch alle Stimmen, zum
Teil mit Vierteltriolen und Sechzehnteln im Dialog werden abgesetzt
durch eine Akkordeonkadenz und einen Impropart. Viele Taktwechsel
der Szene eins pushen die Rhythmuswirkung. „Bach-inventional“ zweistimmig
eingeleitet durchzieht ein quart-quint-durchsetztes Mollthema die
Nummer „Invencíon 1998“.
Der polyphone Ansatz wird im Verlauf mehr und mehr akzent-ryhthmisch
zum schnellen (MM 150) Tangocharakter hin homophon gewandelt.
Laufende Akkordbezeichnungen über dem Akkordeonpart ordnen die Klangabläufe
zu und machen für weitere instrumentale Beteiligungen offen. „Allegro
energico“ als Carioka-unterteiltes 8/8-Metrum, „Lento“ mit
Kadenz als Überleitung zu einem 3+2+2-strukturierten 7/8-Teil
als bulgaresker Schlusssatz stellen die Gliederung von „Tres
Sentimientos“ dar.
Dem Akkordeon – auch mit Impro-Einschüben – wiederum
nur das Manual eins zu Akkordsymbolen zugestanden, erhalten die
Streicher – außer im klangbetonten zweiten Satz – ausschließlich
rhythmisch-akzentuierende Begleitaufgaben. Der körperliche
Musikanteil wirkt bei diesem Stück am deutlichsten.
Klaus Paier lässt sich über die betrachteten Stücke
hinweg immer leicht identifizieren. Sein Stil fußt auf von
rhythmisch-metrischen Einheiten getragener Motorik und scheint
auf entsprechende Zuhörerwirkung aus zu sein. Für entsprechend
passende Gelegenheiten sind diese Kompositionen die Animierer schlechthin.
Die musikalischen Aufgaben an die Musiker/-innen erfordern Feeling
für Jazziges im traditionellen Sinn, halten sich in ihrer
Differenziertheit jedoch in Grenzen. In den ansprechenden Notenausgaben
aus Partitur und Instrumentalstimmen wird jeweils auf bestehende
Aufnahmen der Kompositionen hingewiesen.