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nmz-archiv
nmz 2008/06 | Seite 28
57. Jahrgang | Juni
Deutscher
Tonkünstler Verband
Die Natur beginnt mit der Ursache
Zu den Potsdamer Tagen der Neuen Musik für Kinder
„Es gibt ein Vergessen alles Daseins, ein Verstummen unseres
Wesens,
wo uns ist, als hätten wir alles gefunden“
Hölderlins Ausspruch führt in die Retrospektive, in
einen Versuch, der eigenen Kindheit näher zu kommen. Mit der
Frage und zugleich dem Ausstoß aus dem Olymp „Wohin
denn ich?“, durchläuft Hyperion oder ein Eremit in Griechenland,
nach dem Briefroman von Friedrich Hölderlin in der Bühnenfassung
und Regie von Andrea Conrad am Hans Otto Theater Potsdam, seine
exzentrische Bahn, die jedem Menschen unausweichlich gegeben ist.
Seit drei Jahren macht die Regisseurin in Potsdam ungewöhnliches
Theater ebenso wie Musiktheater für Kinder. Sie hat Visionen
und den Traum einer gesellschaftlichen Utopie. Ihre Inszenierungen
sind getragen von einer hohen Sprachkultur, poetischen Bildräumen
und einer seelischen Nacktheit, die betroffen macht. Was hat Hölderlins
Hyperion mit Musiktheater für Kinder zu tun? Leidenschaftlich
zitiert Andrea Conrad als Antwort aus Hyperion:
„Ruhe der Kindheit! Himmlische Ruhe!
Ein göttlich Wesen ist das Kind,
Es ist ganz was es ist, und darum ist es so schön.
Im Kind ist Freiheit allein,
es kennt sein Herz, die Dürftigkeit des Lebens noch nicht.
Es ist unsterblich, denn es weiß vom Tode nichts.
Schön ist die Zeit des Erwachens.
Es sind heilige Tage, wo
unser Herz zum ersten Male die Schwingen übt“
Nur in
diesem Spannungsfeld, die Kindheit immer wieder neu in sich zu
entdecken, gelingt es ihr, Texte für Kindermusiktheater
und Oper zu schreiben, professionelle Ensemble entstehen zu lassen
und an wechselnden Orten zu inszenieren.
Andrea Conrad studierte Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft,
assistierte und hospitierte über viele Jahre an den großen
Opernhäusern unter anderem bei Willy Decker, Daniel Libeskind,
Peter Greenaway, Achim Freyer und Ruth Berghaus.
„Ich konnte in meiner langen Lehre nie genug bekommen, diese Meister prägen
und verpflichten zugleich, und nun sei es an der Zeit“, sagte sie in heiterer
Stimmung, „den reichen Lebensfundus für die jüngste Generation
zu öffnen und mit höchstem Anspruch Texte und poetische Bilder zu schaffen,
die den Diskussionen um Wertebildung und Wertvermittlung standhalten und als
Kunstform natürlich der Zeit vorauseilen muss.“
Gern wird Musiktheater für Kinder aus einer sehr infantilen Sicht der
Erwachsenen inszeniert. Das haben Kinder nicht verdient. Als die Regisseurin
2006 Mauricio Kagels Werkvorgabe „Zählen und Erzählen – Musiktheater
für Kinder und Erwachsene“ mit Tänzern der Staatsoper Unter
den Linden Berlin, professionellen Musikern wie Patrick Walliser, Klavier,
Susanne Busching Brerow, Cello, Wolf Bender, Geige, Auszüge aus Mauricio
Kagels Trio I und II spielten und das Kinderklangorchester in den hintersten
Reihen im Publikum agierte und somit das Gesamtkunstwerk Musiktheater verdichtete,
wurde der Regisseurin klar, dass Kinder den höchsten Anspruch suchen und
widerspiegeln. Nicht immer sei es wichtig, alles zu verstehen. Das Ereignis
und der Respekt vor der jüngsten Generation sei entscheidend.
Viel Aufklärung und Bewusstseinsveränderung sei überall noch
erforderlich.
„Wie ein heulender Nordwind fährt die Gegenwart über die Blüten
unseres Geistes
Und versenkt sie im Entstehen.
Wir haben unsere Lust daran, uns in die Nacht des Unbekannten, in die
kalte Fremde irgendeiner anderen Welt zu stürzen,
und wäre es möglich, wir verließen der Sonne Gebiet und stürmten über
des Irrsterns Grenzen hinaus.
Das macht uns arm bei allem Reichtum.
Es ist, als wolltest du noch eine Sonne schaffen, und neue Zöglinge für
sie, ein Erdenrund und einen Mond erzeugen.“
Hyperion
2006 entwickelte die Regisseurin in Zusammenarbeit mit Bildenden
Künstlern,
Komponisten und Musikern ein Konzept, Kindermusiktheater im Spektrum von Wissenschaft
und Kunst in der Landeshauptstadt Potsdam als jährlich stattfindendes
Festival zu etablieren. Da sie neben ihrer Tätigkeit als Regisseurin auch
gleichzeitig als Veranstalterin für Konzerte und Theater ein sicheres
Kulturmanagement führen muss, gelang es ihr, ein breites Netzwerk zu
schaffen.
Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit dem Kinderchor der Staatsoper
Unter
den Linden, Konzerte, bewog sie, den damaligen Chef der Opernstiftung Berlin,
Michael
Schindhelm, studierter Physiker, für dieses zukunftsweisende Projekt unterstützend
zu gewinnen.
Am 19.02.2007 widmete Andrea Conrad die 2. Potsdamer Tage der Neuen Musik
für
Kinder Leonardo da Vinci: „Der Erfinder – Vier Variationen zu Leonardo
da Vinci“, Uraufführung nach der Vorlage „Der Codex Leicester“ von
Leonardo da Vinci, Komposition Gisberth Näther, Konzept und Textbearbeitung
Andrea Conrad, ein Musiktheater für Kammerorchester, Schauspieler und
Tänzer.
Der Codex Leicester von Leonardo da Vinci ist das größte zusammenhängende
Dokument. Seine Untersuchungen zu astronomischen, atmosphärischen
und meteorologischen, paläontologischen, geographischen und geologischen
Fragestellungen zeugen davon, wie leidenschaftlich da Vinci über Ursachen
und Wirkkräfte nachdachte und für die beschriebenen Phänomene
visuelle Modelle entwarf. Leonardo ein Visionär, in dessen Denken Kunst
und Wissenschaft noch eine Einheit bildeten. Das zentrale Thema des Codex beschreibt
den Körper der Erde –, insbesondere seine gewaltigen Transformationen
und die Bewegung der Gewässer. Ein hoch aktueller Stoff im Zuge eines
globalen Klimawandels.
Dieser Uraufführung folgte unter ihrer Federführung ein Schulprojekt
der evangelischen Grundschule in Potsdam, ebenfalls am Hans Otto Theater aufgeführt: „Die
Vier Elemente“, eine musikalische Handlung für Klangorchester und
Schlaginstrumente. Kindern spielerisch und zugleich mit künstlerischen
Mitteln wissenschaftliches Denken, den Prozess der Beschreibung, der Erfahrung
und Erkenntnis zu vermitteln, sei ein Hauptanliegen.
„die Natur beginnt mit der Ursache und endet mit der Erfahrung“ (da
Vinci L.C. Fol:55)
„Du hast noch nie so tief aus meiner Seele mir gesprochen. Das erste Kind
der menschlichen Schönheit ist die Kunst. In ihr verjüngt
und wiederholt der Mensch sich selbst.
Der Schönheit zweite Tochter ist Religion. Religion ist Liebe der Schönheit.
Und ohne solche Liebe zur Schönheit, ohne solche Religion ist jeder Staat
ein dürr Gerippe, ohne Leben und Geist.
Das ist sicher, dass man in den Gegenständen der Kunst, doch
meist den reifen Menschen findet.
Und wie der Gegenstand, so auch die Liebe und der nötige Sinn für
Freiheit.“
Hyperion
Die thematische Auseinandersetzung führt die Regisseurin zwangsläufig
auf die geprägten Begriffe – Gesellschaft als soziale Plastik – sowie „Der
erweiterte Kunstbegriff“ von Joseph Beuys, der sich intensiv mit dem
Schaffen des Renaissancekünstlers Leonardo da Vinci auseinandersetzte.
Am 31.10.08 wird die Oper „Der schwarze Schwan und das Mondsichelmädchen“ in
der von Karl Friedrich Schinkel erbauten Nicolaikirche Potsdam ihre Uraufführung
finden.
Andrea Conrad schrieb das Konzept und Libretto, wofür sie wieder den Komponisten
Gisberth Näther gewinnen konnte. Eine Oper für großen Kinderchor,
Kammerorchester, Kinderklangorchester , 4 Sänger und Tänzer soll
aus der Taufe gehoben werden, ein Unterfangen, das seinesgleichen unter dem
Opernhimmel sucht. Über den Inhalt war nur wenig zu erfahren, nur soweit,
dass es in dieser Oper für Kinder und Erwachsene um die Geheimnisse des
Lebens aus wissenschaftlicher und religiöser Sicht geht und daraus sich
künftige Utopien, die jede Generation für sich selbst als Gesellschaftsmodell
entwickeln muss, erschließen können.
Andrea Conrad arbeitet seit zwei Jahren mit einem Orchester zusammen,
dass ihr hoch professionell zur Seite steht und alle Uraufführungen gewährleistet.
Das Landespolizeiorchester Brandenburg unter der Leitung des Dirigenten Peter
Vierneisel sichert auch in diesem Jahr karitativ die Einstudierung der Oper
zu.
Eine sozial künstlerische Leistung, die es bislang in Deutschland
noch nicht gab.
Das Landespolizeiorchester Brandenburg ist zukunftsweisend und
es zeigt, dass zwar tradierte Werte notwendig sind, jedoch ein
Polizeiorchester auch
als ein
Ensemble aus Musikern sich den zeitgenössischen Künsten offen stellt.
Mit Erfolg, so merkt die Regisseurin voller Stolz an und zitiert abschließend
Joseph Beuys: „…wir müssen die Formen des Denkens, als die
Vorraussetzungen für alle weiteren Verkörperungen ansehen. Der Begriff
Kunst muss auf die menschliche Arbeit angewendet werden. Das Kreativitätsprinzip
ist identisch mit dem Auferstehungsprinzip – die alte Form ist erstarrt
und muss in eine lebendige, durchpulste Gestalt, die Leben, Seele und Geist
fördert, umgewandelt werden. Das ist keine Theorie, sondern eine Grundformel
des Seins, die alles verändert.