Gelungene Uraufführung der Oper „Melancholia“ von
Georg Friedrich Haas und Jon Fosse in Paris
Ein Mitleid erregendes Künstlerschicksal wie aus dem Bilderbuch:
Lars, das vielversprechende junge Malertalent aus der norwegischen
Provinz, kommt nach Düsseldorf, um hier an der berühmten
Kunstakademie zu studieren. Doch der psychisch Anfällige wird
durch seine Umwelt systematisch fertiggemacht; seine Studienkollegen
mobben ihn grausam und sein Vermieter wirft ihn aus der Wohnung,
da er sich unglücklicherweise in die fünfzehnjährige
Tochter des Hauses verliebt hat. Die einzige Sicherheit, die ihm
bleibt, ist sein inneres Wissen: Ich kann malen und Helene liebt
mich. Damit macht er sich wieder auf den Weg nach Hause, wo er
ein Leben als unbeachteter Maler verbringt und schließlich
vereinsamt stirbt.
In seinem Künstlerroman „Melancholia“ hat der
norwegische Autor Jon Fosse mit dieser Geschichte eine historische
Figur porträtiert: den geisteskranken, 1902 im Armenhaus verstorbenen
Quäkersohn Lars Hertervig, dessen Landschaftsbilder erst nach
seinem Tod breite Anerkennung fanden. Georg Friedrich Haas hat
aus dem Stoff eine Oper in drei Teilen komponiert, die nun als
französisch-norwegische Koproduktion im Palais Garnier in
Paris zur Uraufführung kam. Dass der theatererprobte Buchautor
selbst das Libretto verfasste, ist ein glücklicher Umstand,
der zum erfolgreichen Gelingen des Projekts zweifellos beitrug.
Die Handlung der Oper beschränkt sich auf den ersten Teil
des Buches, der in Düsseldorf spielt, wo Hertervig sein Kunststudium
nach kurzer Zeit abbricht und als „Versager“ wieder
in seine Heimat zurückkehrt.
Annette
Elster und Otto Katzameier in Stanislas Nordeys Inszenierung.
Foto: B. Uhlig/Opéra National de Paris
Die deprimierende Geschichte findet bei Haas eine sinnfällige
Darstellung. Im Zentrum befindet sich die Hauptfigur Lars. Die
Rolle verkörperte Otto Katzameier sowohl in der Bühnenpräsenz
als auch in der Gestaltung der ausschweifend langen, expressiven
Ariosopartien mit phänomenaler Konzentration. Ihr steht das
feindliche Kollektiv in Form eines Solistenchores (souverän:
das Vokalensemble Nova) gegenüber. Es verkörpert die
anonyme Öffentlichkeit, die ihm Unfähigkeit attestiert
und seine Malerkollegen, die ihn wegen seiner Verliebtheit verhöhnen.
Aus dem Chor treten fallweise die kleineren, aber musikalisch nicht
minder anspruchsvollen Figuren hervor: die Vermieter Herr und Frau
Winckelmann (Johannes Schmidt und Ruth Weber) sowie die zynischen
Malerkollegen Alfred und Bodom und die Kellnerin als Gegenfigur
zur kindlich reinen Helene, die mit Daniel Gloger, Martyn Hill
und Annette Elster vorzüglich besetzt waren. Zwischen Chor
und Hauptfigur steht Helene, eine sphinxhaft zwischen kindlicher
Geliebter und distanzierter Muse schwankende Erscheinung, der Melanie
Walz prägnante Konturen verlieh.
Chor und Solopartien sind eingebettet in einen Instrumentalklang,
der trotz einer Besetzung von nur fünfundzwanzig Spielern
orchestrale Dimensionen besitzt und den das Klangforum Wien unter
Emilio Pomarico zu großen Klangtableaus, aber auch dramatischen
Höhenpunkten auszuweiten verstand. Die Klangfülle hat
zweifellos mit dem ausgeprägten harmonischen Denken des Komponisten
zu tun. Die spektrale Harmonik hat Haas hier auch in unterschiedlicher
dramaturgischer Funktion eingesetzt. Die Außenwelt ist durch
eine quasi-tonale Akkordik, die hart und klar wirkt und zugleich
das konventionelle Denken der Widersacher bloßlegen soll,
die verschlossene Innenwelt hingegen durch sehr differenzierte,
irrationale Obertonverhältnisse charakterisiert. Damit eröffnet
sich ganz nebenbei ein ästhetischer Diskurs zur Frage einer „fortschrittlichen“ Materialbehandlung,
der sich in diesen spektralistischen Klanglandschaften etwas fremdartig
ausnimmt. Mikrointervalle werden vor allem durch die Streicher
realisiert, die auch mit skordierten Instrumenten spielen. In der
Großform gelingt es Haas, das Geschehen durch prägnante
Wechsel in der klanglichen Textur sehr übersichtlich zu gliedern.
Der Bühnenbildner Emmanuel Clolus fand für das Geschehen
ein symbolstarkes Bild: In der Mitte der leeren Bühne, die
wie die Chorkostüme (Raoul Fernandez) in Schwarztönen
gehalten ist, ist ein weißes Segel aufgespannt, Metapher
für Reinheit und Sinnbild einer imaginären Leinwand.
Von der allgemeinen Düsternis heben sich nur die weißen
Kostüme von Lars und Helene ab. Der Regisseur Stanislas Nordey
setzte auf Zeitlupentempo: Die Figuren bewegen sich wie im Traum,
Körperkontakt findet kaum statt – das Drama wird konsequent
durch das innere Auge der Hauptfigur gesehen.
Wenn die formal abgerundete psychologische Fallstudie trotzdem
einen Eindruck des Episodischen hinterlässt, so deshalb, weil
nur die Voraussetzungen dieser Künstlermelancholie, aber nicht
ihre künstlerischen Folgen zur Sprache kommen. Das hätte
aber der depressiven Krankengeschichte einen Sinn gegeben und den
Blick über die bloße Diagnose hinaus auf weitere Zusammenhänge
im stets problematischen Verhältnis von Kunst und Gesellschaft
gelenkt.