Christine Mielitz im Gespräch über die Dortmunder Kinderoper
In Dortmund kann es einem neuerdings passieren, dass der Autolärm
auf dem stark belasteten Hiltropwall plötzlich von einem wilden
Chor aufgeregter Kinderstimmen marginalisiert wird, die sich lustvoll
in ungewöhnlichen Tonfolgen ergehen, wie man sie sonst eher
aus der Oper kennt. Wo sich bis vor kurzem noch ein grauer Parkplatz
befand, entdeckt das Auge erfreut eine aparte Architektur mit auffallendem
Dach in Form eines Schildkrötenpanzers. Sie beherbergt das
neue, eigens für Kinder erbaute Opernhaus in direkter Nachbarschaft
zur großen Schwester und zum Schauspiel. Soviel ist schon
gewiss: Dieses Gebäude wird auch dann noch vor Leben überschäumen,
wenn die wohlfeilen öffentlichen Debatten um das Beste für
die Kinder längst wieder verstummt sind.
Christine
Mielitz bei der Eröffnung der Kinderoper. Foto: Theater
Dortmund
Anfang Mai wurde das Bauwerk mit 99 Plätzen und einer 10 mal
10 Meter großen Bühne von den Kindern in Besitz genommen.
Das Ensemble der Wiener Taschenoper hatte zu den Eröffnungsfeierlichkeiten
das Märchen vom tapferen Schneiderlein mitgebracht, erzählt
in der durchaus experimentellen Klangsprache des Komponisten Wolfgang
Mitterer. Fasziniert vom Ausdrucksreichtum der menschlichen Stimme
improvisieren die jungen Besucher nach der Vorstellung draußen
spontan über all die exponierten Läufe, Intervallsprünge
und Figuren. Berührungsängste vor zeitgenössischer
Musik, wie sie die Großen haben, sind ihnen fremd. Leider
blieb der 30 Musiker fassende Orchestergraben ausgerechnet zur
ersten Premiere geschlossen, denn das Stück ist instrumental
mit einem Kontrabassisten und einem Spieler für Keyboard und
Samples zumindest optisch äußerst asketisch besetzt.
Das Gastspiel der Wiener Taschenoper gehorcht noch der bekannten
Dramaturgie einer Opernaufführung für Kinder durch Profis. Über
die Stücke und Spielformen des Genres wurde in einem Kolloquium
intensiv und kontrovers diskutiert. Profunde Könner und Kenner
aus Theaterpraxis und Wissenschaft wie Christian Schuller und Gunter
Reiß, waren zu einem Erfahrungsaustausch mit Pädagogen
und Eltern nach Dortmund gekommen. „Wer soll eigentlich sagen,
was die Kinder wollen und sollen?“, fragte ein Zuhörer – um
hinzuzufügen: „Wir müssen uns von den Kindern sagen
lassen, was sie bewegt.“ In diese Richtung denkt auch Initiatorin
Christine Mielitz. Sie verknüpft mit dem neuen Haus zugleich
einen ästhetischen Aufbruch: die Idee eines Musiktheaters
mit Kindern für Kinder, bei dem die jungen Menschen sich nicht
nur als Geschöpfe, sondern auch als Schöpfer von Kunst
und Musik erfahren. Für die nmz sprach Christian Tepe mit
der Regisseurin und Dortmunder Opernintendantin über ihre
Motivationen und Pläne für die Kinderoper.
neue
musikzeitung: Wie unterstützt die Kinderoper junge Menschen
bei der gemeinsamen Suche nach Ausdrucksformen für ihr eigenes
Leben? Christine Mielitz: Mir geht es nicht darum zu klagen, dass wir
diese Welt haben, denn wir haben sie. Wichtiger ist es zu erkunden:
Wie können wir diese Welt auch genießen? Wie können
wir auch Freude in dieser Welt empfinden? Wie können wir einfach
trotzdem gerecht bleiben, sodass nicht jeder immer gleich das größte
Stück vom Kuchen kriegen muss? Das Theater hat viel Zeit gebraucht,
dem Individuum Freiraum zu verschaffen. Ein großer Teil
der musikalischen Literatur handelt davon, wie sich der Mensch
aus Zwängen befreit – denken Sie nur an das große
Zusammentreffen von Solisten und Chor in der Oper. Doch heute lautet
die Frage fast umgekehrt: Wie gelingt dem Individuum der Weg zurück
in die Gemeinschaft? Und gerade das ist meine Motivation für
die Gründung der Kinderoper gewesen. Für dieses Ziel
sollten wir keinesfalls auf die Mittel des musikalischen Theaters
verzichten, das uns ja nicht nur Wissen, sondern gelebtes Leben
und gelebte Erfahrung auf eine so umfängliche Weise nahebringt.
Es geht nicht darum, die bestehende Welt zu bekämpfen, sondern
sie runterzuschlucken, aufzufressen und neu auf dem Theater nochmal
auszuspucken. Ich sage es jetzt einmal wie Richard Wagner: Theater
bedeutet Selbsterneuerung.
nmz: Was genau verleiht dem Musiktheater für Kinder solche
Zauberkräfte? Mielitz: Das musikalische Theater macht entscheidende
emotionale Punkte im Leben klar: Man muss einander zuhören, man empfindet
einen Schreck, man entwickelt so etwas wie Taktgefühl. Das
sind alles Dinge, die man ins Leben mit hineinnehmen kann und die
diese laute Zeit vielleicht zu wenig schätzt. Wir haben so
viele Begriffe gar nicht mehr bei uns, die wir beherzigen sollten.
Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit oder auch die Fähigkeit, sich
ohne Nutzen für etwas einzusetzen und dadurch eine unbezahlbare
Befriedigung zu erleben. Alle diese seelischen Vermögen
müssen zunächst einmal in Erinnerung gebracht werden,
denn sie sind einfach wichtig für das Wesen Mensch.
nmz: An der künstlerischen Umsetzung dieser Konzeption werden
auch junge Menschen selbst beteiligt sein. Opernproduktionen mit
Kindern für Kinder bedürfen jedoch musikalisch geschulter
und in gewissem Grade ausgebildeter Kinder. Mielitz: Es ist ein ganz besonderes Alleinstellungsmerkmal,
dass wir mit der Chorakademie Dortmund, an der 1.300 Kinder unterrichtet
werden, eine der größten Singschulen Europas vor Ort
haben. Manche Kinder gehen nur einmal die Woche da hin und nehmen
das eher locker, andere leben im Internat und widmen sich täglich
mit großer Disziplin und Konzentration ihrer Ausbildung.
Diese unterschiedlichen Gruppierungen können wir richtig abrufen.
Wir können zum Beispiel sagen, wir wollen von Britten den „Kleinen
Schornsteinfeger“ machen, da brauchen wir bitte einen siebenstimmigen
Chorsatz. Das ist natürlich ein Reichtum in der Stadt, der
auch das Spielen mit Kindern für Kinder unglaublich erleichtert.
Dabei finde ich ganz wichtig, dass das Prozesshafte dieser Arbeit
verdeutlicht wird und dies den Kindern Mut macht, indem sie erkennen: „Das
ist noch nicht ganz fertig, das kann ich lernen.“ Wenn man
bedenkt, dass Mozart sein „Bastien und Bastienne“ mit
12 Jahren geschrieben hat, sollten auch wir wieder die Courage
haben zu fragen: Gibt es Kinder, die sagen: „Moment mal,
für euch drei schreibe ich etwas.“? Die Kinderoper schafft
dafür einen großen Freiraum, ohne die Professionalität
zu vernachlässigen.
nmz: Wie ist es denn um die Mitwirkungsmöglichkeiten von Kindern
bestellt? Mielitz: Es gibt sogar Kinder, die singen wunderbar
und sagen trotzdem: „Das
reizt mich gar nicht. Ich bin interessiert, wie diese Lichtstimmungen
am Computer gemacht werden.“ Es ist sehr wichtig, die Kinder
da abzuholen, wo sie auch leben. Die werden am Computer von der
ersten Klasse an geschult; vielleicht gelingt es, das Theater sogar
in ihre Computerwelt hineinzubringen. Die Kinderoper soll zeigen:
Theater heißt nicht nur singen, musizieren und tanzen, sondern
da ist auch der Tontechniker dabei, da ist auch der Maler dabei,
da ist auch der Beleuchter dabei. Was so leicht aus den Augen gerät:
Ein Theater ist ein riesiger Arbeitgeber, ein großer sozialer
Faktor in einer Stadt.
nmz: Wie sieht die Zukunft der
Dortmunder Kinderoper aus? Christine Mielitz: Natürlich ist diese kleine Kinderoper wie
ein Kind: Es sind noch nicht alle Schuhe da und es ist noch nicht
jedes Kleid ein Vorhang, es ist noch nicht jeder Scheinwerfer angeschafft.
Aber es soll eben nicht so sein, dass alles, was mal in der großen
Oper kaputtgegangen war, hier halb repariert reingehängt wird.
Wir haben den Anspruch, den Kindern zu sagen: Ihr seid die Zukunft
und für euch allein ist das da. Aber das alles kostet Geld,
es muss erwirtschaftet werden, dazu müsst ihr uns besuchen,
zeigt euer Interesse, sagt uns, was ihr braucht, schreibt die Wunschzettel
nicht an den Weihnachtsmann, sondern an den Förderverein,
der fortlaufend immer mehr Mittel einwirbt. In dieser Aufbauspielzeit
sind erst mal alle Beträge in den Bau selber gegangen. Den
Spielbetrieb unterhalten wir im Moment allein mit Mitteln unseres
Theaters, was nur durch ein hohes Maß an Idealismus aller
künstlerischen und technischen Mitarbeiter möglich ist,
wofür ich den Kollegen sehr, sehr dankbar bin.