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nmz-archiv
nmz 2008/07 | Seite 7
57. Jahrgang | Juli/Aug.
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Einbauküchen-Musik
Uraufführungen zu bestellen ist stets ein Risikospiel für
die Veranstalter; man weiß nicht, ob man auf Flop oder Top
gesetzt hat. Nicht weniger riskant kann es aber auch sein, wenn
man bei einem Komponisten einen Grundsatztext fürs Programmheft
bestellt. Das werden sich die Verantwortlichen der Münchner
Musica Viva gedacht haben, als sie den Text in den Händen
hielten, den sie bei Dieter Schnebel für das Jahresprogramm
der neuen Saison bestellt hatten. Vielleicht hatten sie ein pastorales
Geleitwort erwartet, doch unter dem Titel „Einige Gedanken
zur Situation der Neuen Musik“ sandte ihnen der Komponist ätzende
Bemerkungen über den auf Hochtouren laufenden Betrieb.
Das liest sich dann so: „Großes Einerlei, alles so ähnlich,
allerdings gut gemacht – ‚professionell’ – Musikhochschulmusik.
Die Stücke meist fabelhaft aufgeführt – durch virtuose
Ensembles. Der Klang freilich glänzend wie die lackierten
Gegenstände um uns herum, die Einbauküchen, Handys, Autos
etc. – genormte Produkte. Kaum ein Unterschied, woher immer
die Komponistinnen und Komponisten kommen, egal ob aus Palästina,
Brasilien, Australien – globalisierte Einheits-Neue-Musik.
Uns Älteren fehlt die Tiefe.“
Aus diesem Negativ-Katalog darf sich jeder Komponist und jede
Komponistin, die weiter hinten in den Konzertprogrammen vorkommen,
für
sich etwas aussuchen. Vielleicht wird es ja auch einen oder zwei
geben, auf die das alles nicht zutrifft. Aber mit seinen Beobachtungen
hat Schnebel zweifellos den Nagel auf den Kopf getroffen, was den
Mainstream des aktuellen Komponierens mit seinen standardisierten
Festivalformaten und theoretisch eloquent unterfütterten Designerstücken
für den gehobenen Konsum angeht. Solche Produkte – sie
sind die erdrückende Mehrheit – werden heutzutage kurz
abgeschmeckt, applaudiert und dann beiseite gelegt. Nachdenklich
Machendes oder gar Berührendes trifft man selten an, und wenn,
findet es oft nicht die nötige Aufmerksamkeit.
Man kann Schnebels harsche Diagnose als Ausdruck eines Generationenproblems
deuten; er selbst, bescheiden wie er ist, suggeriert das mit seiner
Bemerkung von der fehlenden Tiefe und verweist auf Adorno, der
bei der Fünfzigerjahre-Avantgarde auch nicht mehr richtig
mitgekommen sei. Man kann sie aber auch als Feststellung eines
unbestechlichen Beobachters lesen, dessen Urteilskriterien nicht
dem schwankenden Zeitgeist unterliegen, weil sie auf einem erprobten
humanistischen Fundament ruhen.
Auf seine Weise hat das vor Jahren auch Helmut Lachenmann über
Luigi Nono gesagt: Von Nono könne man lernen, dass es „kein
aufgeklärtes Komponieren geben kann ohne die Verankerung in
einer verantwortungsvollen Gesinnung, die übers bloße
Musikmachen hinausreicht, und dass es nicht geht ohne den Willen
und die Bereitschaft, für solche Gesinnung mit seiner ganzen
Existenz einzustehen“. Es handelt sich offenbar weniger um
eine Generationsfrage als vielmehr eine Frage des Bewusstseins.
Und dieses scheint der Mehrzahl der heutigen Stückelieferanten
abhanden gekommen zu sein.
Schnebel hütet sich indes vor der billigen Feststellung,
früher
sei eben alles besser gewesen.
In den grenzenlosen Möglichkeiten der Gegenwart, in der „gigantischen
Müllhalde aus neuen, alten und uralten Dingen“ sieht
er auch ein Zukunftspotenzial: „Dinge sortieren; Kompostieren
(...), in die Tiefe graben – was sich da abgesetzt hat, es
herausangeln; dann die Funde komponieren...“ Das Neue tun
und von den alten Überzeugungen nicht lassen: Das wäre
die Aufgabe des heutigen Komponierens – zugegeben eine schwierige,
aber nur so ließe sich ein Ausweg aus der Sackgasse des marktkonformen
Neue-Musik-Betriebs finden. Auf musikalische Einbauküchen
können wir getrost verzichten.