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nmz-archiv
nmz 2008/07 | Seite 4-5
57. Jahrgang | Juli/Aug.
Magazin
Gegen die affirmative Funktion von Musik
Zwei neue Sammelbände zum kulturellen Wandel nach 1968 · Von Albrecht
Dümling
Nun sind auch diese bewegten Jahre schon wieder Geschichte geworden. Man reibt
sich die Augen: Sind seitdem wirklich vierzig Jahre vergangen? Beteiligte wie
Unbeteiligte schauen zurück, erinnern sich und bewerten. Das kann sehr
schrille Züge annehmen, wenn etwa – wie in dem Buch „Unser
Kampf“ von Götz Aly – die Rebellen von 1968 mit den Hitler-Anhängern
von 1933 verglichen werden. Angemessener und weniger einseitig angelegt war
dagegen die große Retrospektive „Kunst + Revolte“ der Berliner
Akademie der Künste, die sich in diesem Frühjahr in Ausstellungen,
Diskussionen, Lesungen, Filmvorführungen, Tanzperformances und Konzerten
dem künstlerischen Erbe von 1968 widmete.
Mehr abseits vom Weltgeschehen, in der idyllisch gelegenen Katholischen Akademie
Schwerte, hatte man schon im Oktober 2005 über „1968: Musik und
gesellschaftlicher Protest“ diskutiert und referiert. Im Januar 2006
folgte am gleichen Ort als Fortsetzung die wissenschaftliche Tagung „1968:
Musikkulturen zwischen Rebellion und Utopie“. Die Ergebnisse dieser beiden
Symposien wurden inzwischen in zwei anregenden Büchern veröffentlicht.
Auch
in der nmz hinterließen die 1968 ausgelösten Diskussionen
deutliche Spuren. Hier ein Bericht zu Henzes „El Cimarron“ im
Dezember 1970.
Die Jahreszahl 1968 scheint Eindeutigkeit zu signalisieren, verweist aber
auf ein ganzes Bündel und Spektrum von Themen. Man griffe zu kurz, wollte
man „1968“ auf den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS)
oder gar auf die RAF einengen. Es handelte sich zwar nicht um eine ganze Generation,
aber doch um eine Vielfalt häufig in sich zerstrittener Gruppen. Den an
der Sowjetunion und der DDR sich orientierenden Gruppen standen, so Frieder
Reininghaus, verschiedene „K-Gruppen“ gegenüber, deren Vorbilder
die Volksrepublik China oder Albanien waren. Hatte für sie der Pariser
Mai den Startimpuls gebildet oder, wie Reininghaus meint, der Prager Frühling?
Aus der Sicht von Maoisten war sicher der Aufbruch im „real existierenden
Sozialismus“ von besonderem Interesse. Man dürfte aber wohl behaupten,
dass für die Mehrheit der Protestler die Kritik an Verkrustungen innerhalb
des westlichen Kapitalismus, am Vietnamkrieg sowie an der damals diagnostizierten „Bildungskatastrophe“ (Georg
Picht) den Ausgangspunkt bildete.
Der Protest entstand nicht im luftleeren Raum, sondern hat Vorläufer wie
die niederländischen Provos, die ab 1965 das „Establishment“ durch
spielerische Aktionen provozierten. Diesem Umfeld entstammte die sogenannte „Notenkrakersactie“,
die „Notenknackeraktion“, mit der am 17. November 1969 eine Gruppe
junger niederländischer Komponisten und Musiker ein Konzert des Amsterdamer
Concertgebouw Orkest störten. Als Bernard Haitink an jenem Abend den Taktstock
hob, um den Einsatz zu geben, erklangen verschiedene Lärminstrumente und
regneten Flugblätter auf das Publikum herab. Die Störer begannen, über
Megaphon mit den Musikern und dem Publikum zu diskutieren, wobei sie die autoritären
Strukturen im Orchester und den geringen Anteil zeitgenössischer Musik
anprangerten. Federführend bei dieser Aktion waren die Komponisten Louis
Andriessen, Reinbert de Leeuw, Misha Mengelberg, Peter Schat und (mit Einschränkungen)
Jan van Vlijmen, in Holland bekannt als „Die Fünf“. Als Schüler
von Kees van Baaren verknüpften sie einen experimentellen Ansatz in der
Musik mit linkspolitischen Themen. Schon Ende Mai 1968 hatten sie im Amsterdamer
Carré-Theater mit „politisch-demonstrativen Experimentalkonzerten“ begonnen
und unmittelbar vor ihrer spektakulären „Notenknackeraktion“ an
der Oper „Reconstructie“ zusammengearbeitet, die dann beim Holland-Festival
1969 mit großer Wirkung herauskam.
Aus Misstrauen gegen die bürgerliche Demokratie und ihre „verwaltete
Welt“ kam es zu einer außerparlamentarischen Opposition (APO).
Die Kritik am bürgerlichen Musikbetrieb stand nicht im Zentrum des Protests,
war aber doch ein Teil davon. Abonnementkonzert und Oper galten als Inbegriff
des Establishments und deshalb als besonders kritikwürdig. Tatsächlich
waren nicht nur beim Concertgebouw Orkest Ablauf und Programmgestaltung ritualhaft
erstarrt. Kritisiert wurde ebenso der Kult um Virtuosen und Dirigenten, wobei
Herbert von Karajan ein beliebtes Angriffsziel darstellte. „Am gegenüberliegenden
Pol wurde Pierre Boulez lokalisiert“, so Martin Elste. „Als
Dirigent schien er mit seinem Schlachtruf vom In-die-Luft-Sprengen der Opernhäuser
alle Traditionen rückhaltlos zu hinterfragen.“
Für wen komponieren
Sie eigentlich?
Das etablierte Musikleben wurde nicht mehr als selbstverständlich akzeptiert.
Vielmehr fragte man nun mit Heinz-Klaus Metzger grundsätzlich: „Musik
wozu?“ Und Hansjörg Pauli richtete an Komponisten die Frage: „Für
wen komponieren Sie eigentlich?“ Zur Skepsis gegen die vorherrschende
Praxis hatte neben Theodor W. Adorno nicht zuletzt Herbert Marcuse beigetragen.
In seinen Büchern „Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie
der fortgeschrittenen Industriegesellschaft“ (1964) und „Versuch über
Befreiung“ (1969) plädierte er für eine authentische Kunst,
die sich dem „affirmativen Charakter der Kultur“ widersetze.
Der Musikpublizist Ulrich Dibelius schrieb 1969 in dem von ihm herausgegebenen
Sammelband „Musik auf der Flucht vor sich selbst“ über das
gegenwärtige Komponieren: „Es will nicht als elitäre Kunstübung,
sondern als ein dazugehöriger Teil des gelebten Alltags verstanden sein.“ Der
damals revoluzzerhaft auftretende Pierre Boulez plante in diesem Jahr, wie
Clytus Gottwald berichtet, ein Stück über die Mauerinschriften der
Pariser Revolte von 1968; dazu kam es nicht, weil Luciano Berio ihm zuvorgekommen
sei. Anders als Boulez und Berio befürchteten allerdings die Darmstädter
Ferienkurse für Neue Musik, so Frank Hentschel, nichts so sehr wie eine
Politisierung. Nachdem auf einer „Vollversammlung“ am 1. September
1970 Teilnehmer von der Kursleitung mehr Internationalisierung und Demokratisierung
gefordert hatten, wurden die Wortführer Reinhard Oehlschlägel, Rudolf
Frisius, Ernstalbrecht Stiebler und Max E. Keller bei den Kursen von 1972 von
der Teilnahme ausgeschlossen. Ebenfalls in diesem Sommer warnte der Musikwissenschaftler
Carl Dahlhaus in einem Darmstädter Vortrag eindringlich vor einer Annäherung
von Musik und Politik, da dies der musikalischen Qualität nur schade.
Schon zuvor hatte er in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ „engagierte
Musik“ als ein Schlagwort bezeichnet, „mit dem sich Gedankenlosigkeit
drapiert“.
Bei den Darmstädter Ferienkursen gab es tatsächlich Züge von
Erstarrung, die dann als Folge des Protests aufgebrochen wurden: Der nun erstmals
installierte Programmbeirat sorgte dafür, dass auch Komponisten wie Mauricio
Kagel, Iannis Xenakis, Christian Wolff und Frederic Rzewski ihre Werke vorstellen
konnten. Kagel kam, enttäuschte aber manche seiner linken Fürsprecher
als sie bemerkten, dass sein experimentelles Schaffen „weniger revolutionär
orientiert war, als es zunächst den Anschein hatte“ (Björn
Heile). Heile erklärte Kagels Zurückhaltung aus seiner anarchistischen
Herkunft und seinen argentinischen Erfahrungen, die ihn immun machten gegenüber
den Verlockungen einer eindeutig politisch engagierten Kunst. Hierin glich
er seinem Freund Györgi Ligeti, der 1956 aus dem stalinistischen Ungarn
geflohen war.
Dagegen waren Luigi Nono und Hans Werner Henze geprägt durch den Widerstand
gegen Faschismus und Nationalsozialismus und begrüßten deshalb viel
grundsätzlicher den Aufbruch der kritischen Studenten. Vehement unterstützte
Nono den Protest gegen den Vietnamkrieg und widmete diesem Thema seine Komposition „A
floresta è jovem e cheja de vida“ für Sopran, drei Schauspieler,
Klarinette, Kupferplatten und Tonband. Obwohl Mitglieder des Living Theatre
bei der Uraufführung aus einer Schrift des US-Verteidigungsministeriums
vorlasen, entstand kein schlichter Agitprop. Das Werk gehört vielmehr
durch verschiedene Interaktionen zwischen Live- und Tonbandstimmen, Stimmen
und Geräuschen, natürlichen und artifiziellen Klängen, Akustischem
und Visuellem der musikalischen Avantgarde an.
Gerade das Musiktheater eignete sich zur Vermittlung brisanter Inhalte. Am
Beispiel von „Fidelio“-Neuinszenierungen in Kassel, Bremen und
Salzburg – alle aus dem Jahre 1968 – stellte Glenn Stanley dar,
wie sehr die politischen Ereignisse die Wahrnehmung dieses Werks veränderten.
In Kassel konzentrierte man sich ganz auf „die Grundthemen Gewalt,
Unterdrückung,
politischer Mord“, wozu man Texte solcher Autoren einblendete, die
Opfer politischer Gewalt gewesen waren. Wenngleich solche Eingriffe in Beethovens
Werk damals heftige Proteste hervorriefen, regten sie doch eine Inszenierungstradition
an, die bis heute fortwirkt. Hans Werner Henze hatte schon vorher, so in
seiner 1966 in Salzburg uraufgeführten Oper „DieBassariden“,
Themen der psychischen und sexuellen Befreiung aufgegriffen, die dann ebenfalls
die Revolte
von 1968 prägen sollten (dazu Antje Tumat). Er war deshalb vorbereitet
auf die Begegnung mit der Studentenbewegung, die Arnold Jacobshagen am Beispiel
des multimedialen Bühnenwerks „Der langwierige Weg in die Wohnung
der Natascha Ungeheuer“ schilderte.
Luigi Nono hatte mit „Intolleranza 1960“, einer Auseinandersetzung
mit dem Algerienkrieg, ein dezidiert politisches Bühnenwerk geschaffen,
das 1962 bei seiner Uraufführung in Venedig den Protest von Neofaschisten
hervorrief. Mit „La fabbrica illuminata“ für Sopran und Tonband
entstand 1964 eine Komposition, die – so behauptet Caroline Lüdersen – zum
Paradigma politischen Komponierens in den 1960er-Jahren wurde. In der Frage,
ob Inhalt oder Form wesentlicher seien, schieden sich damals die Geister. Wie
Simone Heilgendorff am Beispiel der 1959 entworfenen Vokalkomposition „glossolalie“ von
Dieter Schnebel demonstrierte, suchte der Komponist darin eine Verbindung beider
Elemente, indem er alltägliche Interaktionsformen zur Diskussion stellte.
Hier bedürfe es dann nicht mehr der Worte, sondern eines „szenischen
Verstehens“. Den pädagogisch-theologischen Impuls des Komponisten
leitete Clytus Gottwald aus seiner Auseinandersetzung mit der modernen Theologie
ab. Dennoch könnte man Schnebels Kompositionen dieser Jahre den vielfältigen
Subversionsstrategien zuordnen, die damals entwickelt wurden und die auch die
Lebensformen veränderten.
Die Fragen nach
Funktion und Wirkung
Kunst sollte zu gesellschaftlichen Veränderungen beitragen, das war die
offen erklärte Hoffnung vieler. Man fragte deshalb nach ihren Aufgaben
und war unzufrieden, wenn dekorative, affirmative Funktionen dominierten. Marxistische
Gedankenmodelle wanderten, so Martin Elste, auch in die Musikkritik ein und
führten teilweise zu Stilblüten. Bei denen, die sich an Mao und seiner
Kulturrevolution orientierten, aber auch bei jenen, die andere Modelle des
Sozialismus als Gegenbilder zum vorherrschenden Kapitalismus anstrebten, stand
die „Revolution“ hoch im Kurs. Es war ein verlockender Begriff,
dessen Konsequenzen nicht immer bedacht wurden. Marxistisch orientierte Studenten
führte er dazu, ein Bündnis mit den Arbeitern zu suchen. Hatte es
nicht in der Weimarer Republik eine mächtige Arbeiterbewegung gegeben,
die von Hitler zerschlagen worden war? Statt sich etwa nach den Resultaten
von Arbeiterkunst in der DDR zu erkundigen, studierte man lieber die kulturpolitischen
Debatten der zwanziger Jahre. Auch die Rote Blaskapelle von Freiburg erstrebte
illusionär, so Peter Schleuning selbstkritisch, eine Rekonstruktion der
Arbeiterbewegung. Nach dem Vorbild des „Roten Sprachrohrs“ Hanns
Eislers entstanden Agitproptruppen, die direkt in die Politik eingreifen wollten.
Elf dieser Truppen nahmen, wie Andreas Kühn berichtet, im März 1978
an einem Arbeitertheater-Festival der KPD/ML in der Dortmunder Westfalenhalle
teil und glaubten, durch Gesänge die Klassenkämpfe der Weimarer Republik
wiederbeleben zu können.
Eine solche „Arbeiterkunst“ erreichte nur eine Minderheit. Viel
mehr Menschen hörten dagegen Pop- und Rockmusik, die man bis dahin nur
als Unterhaltung wahrgenommen hatte. Da diese Musik zweifellos ihr Publikum
hatte, gewann sie nun unter soziologischem Aspekt das ernsthafte Interesse
der Studenten. In den avancierten Formen des Rock sah man Protestpotenziale
und Gegenbilder zu dem als erstarrt empfundenen „elitären“ Konzertbetrieb.
Beispielhaft für die nun einsetzende Neubewertung waren die Essener Songtage
vom September 1968, die ihr Initiator Rolf Ulrich Kaiser als deutsche Antwort
auf das Monterey Pop Festival des Vorjahres konzipierte. Internationale Gruppen
wie Mothers of Invention und Pink Floyd trafen hier auf die deutschen Gruppen
Amon Düül, Can und Tangerine Dream, auf Jazzmusiker wie Gunter Hampel
und Peter Brötzmann und Liedermacher wie Franz Joseph Degenhardt, Hanns
Dieter Hüsch und Dieter Süverkrüp.
Die hier unter dem Schlagwort „Underground“ als Alternativkultur „von
unten“ präsentierte Popkultur rückte jetzt in die Nähe
der musikalischen Avantgarde sowie der Pop Art. Hatten sich zu den Blütezeiten
des deutschen Schlagers noch Abgründe aufgetan zwischen E- und U-Musik,
so gab es nun Annäherungsversuche. Beispielhaft waren Frank Zappas Collagen
auf „Freak out“, der ersten Platte der Mothers of Invention, die
1969 das Bremer Tanztheater von Johann Kresnik und Dieter Behne zu ihrer Produktion „Susi
Cremecheese“ inspirierten (Steffen A. Schmidt).
Nicht wenige beschäftigte damals die Frage, warum man in Deutschland so
wenig sang und warum es hier keinen Yves Montand oder Georges Brassens, keinen
Pete Seeger und keine Joan Baez gab. Der Orientierung an solchen internationalen
Vorbildern dienten die Treffen auf Burg Waldeck im Hunsrück, wo unter
dem Motto „Chanson Folklore International – Junge Europäer
singen“ auch deutsche Liedermacher wie Walter Moßmann, Degenhardt,
Süverkrüp, Reinhard Mey und Hannes Wader auftraten. Lieder wie Degenhardts „Spiel
nicht mit den Schmuddelkindern“ schlugen realistische Töne an und
hoben sich damit ab von der intellektuellen Erbärmlichkeit des Schlagers.
In den inzwischen auch in einer CD-Edition dokumentierten Waldeck-Treffen lagen,
so Holger Böning, die Anfänge des musikalischen Protests, dem sich
Rockgruppen wie Floh de Cologne, Lokomotive Kreuzberg, Hotzenplotz und die
West-Berliner Kultband „Ton Steine Scherben“ um Rio Reiser anschlossen.
Angeregt durch internationale Vorbilder, auch durch die Volksliedsammlung von
Wolfgang Steinitz, kam es zu neuen Liedformen, auch in der Singebewegung der
DDR.
Avantgarde als
pluralistisches Konzept
Gewiss taten Teile der Studentenbewegung die Beschäftigung mit musikalischen
Fragen als unnütz ab. Bestätigt dies aber warnende Stimmen wie die
von Carl Dahlhaus, der eine Banalisierung als notwendige Konsequenz der Politisierung
vorausgesagt hatte? Die hier vorliegenden Referate widersprechen dem. Gianmario
Borio hob gerade das avantgardistische Moment der von „1968“ beeinflussten
Musik hervor. Allerdings sei die Avantgarde zersplittert und nicht mehr auf
das Merkmal der Abstraktion konzentriert. Demgegenüber schlug Borio vor,
die Distanzierung von der dargestellten Wirklichkeit und die Modifikation der
gewöhnlichen Wahrnehmung wie die Vergrößerung eines Details
als avantgardistisch im Sinne von Dadaismus und Surrealismus zu sehen. Unterstützt
durch die Schriften von Adorno, Marcuse, McLuhan, Abraham Moles, Max Bense,
Umberto Eco und Guy Debord sei 1968 die zentrale Bedeutung der Kommunikation
entdeckt worden, weshalb in der Musik dieser Zeit das Performative in den Vordergrund
trat.
In Borios Deutungsmodell, das Ausführungen des Linguisten Joachim Scharloth
stützten, bündeln sich viele Beobachtungen zu der in diesen Jahren
entstandenen Musik: die Bemühungen Hans Werner Henzes um eine musikalische
Semiotik, die vielfach angestrebte Verbindung von Musik mit anderen Künsten,
die Tendenzen zur offenen Form und zur Improvisation, zu Stilpluralismus, Umfunktionierung,
Montage und Collage. Unter dem kommunikativen Aspekt veränderte sich das
Ballett zum Tanztheater und strebte sogar die evangelische Kirchenmusik nach
Provokation und Verfremdung (Daniela Philippi) sowie nach „religiösem
Aufruhr“ (Clytus Gottwald). Durch verschiedene Arten der symbolischen
Funktionalisierung, die Rainer Dollase auch für den Umgang mit Unterhaltungsmusik
feststellte, entwickelte sich so auf vielen Ebenen eine Gegenkultur mit einer „Ästhetik
des Widerstands“ (dieses Buch von Peter Weiss blieb merkwürdigerweise
unerwähnt).
Obwohl die revolutionären Hoffnungen scheiterten, führte der Protest
gegen die bürgerliche Musikkultur tatsächlich oft zu einer Demokratisierung,
zu mehr Mitbestimmung, wie die Gründung zahlreicher Ensembles beweist.
In ihnen wurzeln die breite Wiederentdeckung der Alten Musik und die Entwicklung
der historischen Aufführungspraxis (Kailan Rubinoff zeigte dies am
Beispiel von Frans Brüggen), aber auch Phänomene wie die Junge Deutsche
Philharmonie und das Ensemble Modern.
Die beiden Tagungen in Schwerte untersuchten auch gleichzeitige Ereignisse
in den Niederlanden, in Italien, in der DDR, im Ostblock sowie in Griechenland.
Dennoch blieben viele Fragen offen, so der Einfluss von „1968“ auf
die Musikpädagogik, auf die Wechselwirkung von E- und U-Musik sowie die
zwischen den verschiedenen Kunstsparten. Trotz dieser Bücher und trotz
des von Hanns-Werner Heister herausgegebenen Bandes „1945–1975“ zum „Handbuch
der Musik im 20. Jahrhundert“ bleiben also der Musikwissenschaft und
ihren Nachbardisziplinen noch viele Aufgaben.
Im Rückblick darf man feststellen, dass „1968“ zu keiner Verarmung
des Musiklebens führte, sondern zu einer großen Bereicherung. Anstelle
der von manchen befürchteten Trennung von „Revolution der Musik“ und „Musik
der Revolution“ gab es vielfältige Verschmelzungen und Aneignungen.
Staunend erfährt man aus den beiden Bänden, wie vielfältig die
Auswirkungen waren. So gehörte „1968“ zu den Voraussetzungen
für die Entfaltung der postmodernen Richtung in der Neuen Musik, nicht
zuletzt der Neuen Einfachheit. Die kritischen Fragen nach der Funktion von
Musik führten vor allem in den Niederlanden zu einer stärkeren öffentlichen
Förderung der Musikkultur und Musikerziehung.
Trotz dieser beeindruckenden Bilanz und obwohl Hannah Ahrend schon im Juni
1968 in einem Brief an Karl Jaspers die damaligen Ereignisse mit 1848 verglich,
kann von einer Kulturrevolution nicht die Rede sein. Denn insgesamt partizipierte
doch nur eine Minderheit der Bevölkerung am „Mythos 1968“ und
seinen Folgen. Die Berliner Akademie der Künste betitelte ihren langen
Musikabend zum Schluss der Retrospektive „Kunst + Revolte“ deshalb
bewusst doppeldeutig: „Einspruch. Musikalische (R)Evolutionen um ‘68“.
Albrecht Dümling
Beate Kutschke (Hg.), Musikkulturen in der Revolte. Studien zu Rock, Avantgarde
und Klassik im Umfeld von ‚1968’. Franz Steiner, Stuttgart
2008, 249 S., ISBN 978-3-515-09085-8
Arnold Jacobshagen, Markus Leniger
(Hg.), Rebellische Musik. Gesellschaftlicher Protest und kultureller
Wandel um 1968. Dohr, Köln 2007, 320 S., ISBN
978-3-936655-48-3