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nmz-archiv
nmz 2008/07 | Seite 18
57. Jahrgang | Juli/Aug.
Forum Musikpädagogik
Differenziertes Arbeiten und Spaß in der Großgruppe
Neue Anregungen beim 2. Kongress zum Streicherklassenunterricht
an der Landesmusikakademie Berlin
In der Streicherpädagogik findet in Deutschland derzeit ein
Paradigmenwechsel statt. Beginnend mit den Versuchen zum Streicherklassenunterricht
in ausgewählten Schulen Anfang der 1990er-Jahre bis hin zur
Initiative „JeKi“, deren konkrete Ausgestaltung derzeit
erarbeitet wird, ist es inzwischen Konsens, dass instrumentaler
Unterricht in die allgemein bildende Schule integriert werden muss,
sollen nicht immer mehr Menschen von kultureller Bildung ausgeschlossen
werden. Initiiert von Regine Schultz-Greiner (Berlin) und Bernd
Zingsem (Düsseldorf), richtete die Landesmusikakademie Berlin
Ende April den 2. Kongress zum Streicherklassenunterricht aus.
Als Dozentin konnte die große Violinpädagogin Sheila
Nelson aus Großbritannien gewonnen werden.
Sheila Nelson berichtete über die ersten Anfänge mit
dem Tower-Hamlet-Project in London und gab Lehrproben mit einer
Berliner Schülergruppe. Grundlage ihres Unterrichts sind die
Relative Solmisation als Voraussetzung für das Hören
und die motorischen Grundlagen des Streichinstrumentenspiels, die
Paul Rolland bei der Arbeit für das Illinois String Research
Project entwickelte: „Musik lernen durch Musik“, „vom
Großen zum Kleinen“ und „ist etwas steif oder
verkrampft, dann bewege es“. Bewegung ist ein wichtiger Aspekt
von Sheila Nelsons Unterricht. Nachdem die Klasse noch etwas ängstlich
ihr Stück vorgestellt hatte, brachte Sheila Nelson die Kinder
zum Swingen. In den Viertelpausen mussten die Knie gebeugt werden
und zum Schluss durften alle laut rufen: „Hey!“ Gleich
klang es viel besser und den Kindern sah man die Freude an. Und
schon ging es weiter mit Improvisationsübungen: „Ich
einen Takt – Du einen Takt“, immer eingebettet in einen
Orchesterrefrain. Viele Kinder waren zuerst unsicher, was zu tun
sei, aber einige wagten sich mit mutigen Eigenkreationen vor. Jeder
musste einmal ran, es gab kein richtig oder falsch, lediglich fehlende
Töne füllte Sheila Nelson manchmal liebevoll auf, um
das rhythmische Gerüst zu stützen. Binnendifferenzierung
in der Großgruppe, Einzelkorrektur bei gleichzeitiger Beschäftigung
der ganzen Gruppe, all diese Forderungen gelungenen Gruppenunterrichts
konnte man hier exemplarisch verfolgen und ganz nebenbei machte
es Dozentin und Schülern sichtlich Spaß.
Die Arbeit in der Streicherklasse nach Paul Rolland ist die derzeit
sicher bekannteste Methode und daher trafen sich zum Kongress auch
hauptsächlich Lehrkräfte, die den entsprechenden berufsbegleitenden
Lehrgang bereits absolviert hatten. In den verschiedenen Arbeitsgruppen
wurden die nötigen organisatorischen Voraussetzungen in der
Zusammenarbeit zwischen Musikschule und allgemein bildender Schule
diskutiert, Arrangements für gemischte Streicherklassen erarbeitet
und Unterricht auf dem „fremden“ Instrument, hier Cello
und Bass, angeboten. Rockige Begleitungen scheinen ein Merkmal
der verwendeten Literatur zu sein. Das Seminar zum Thema Arrangement,
sehr fachkundig von Christian Oelert geleitet, zielte weniger auf
einen klassischen Tonsatz ab, als eben auf eine Begleitung mit
Klavier oder Gitarre zur einstimmigen Streichermelodie. Um eine
gewisse Eintönigkeit auszugleichen, werden die Begleitungen
mit Jazzharmonien angereichert, was man sehr gut an Oelerts Klavierpart
bei der Schülerdemonstration hören konnte. Durch sein
Rockpiano gerieten die Kinder sofort in Schwung.
Lehrwerke, Unterrichtsmodelle
Birgit und Peter Boch stellten ihr neues Lehrwerk „Streicher
sind Klasse“ (Schott) vor. Darin versuchen sie, die Lehrplaninhalte
für die fünfte und sechste Gymnasialklasse konsequent
mit den Anforderungen des Streicherklassenunterrichts zu verbinden.
Musikalisierung durch Musikmachen heißt das Motto. Die Grundlage
bilden wieder Solmisation und Rhythmussprache, hinzu kommen theoretische
und wissenschaftliche Anteile, wie sie der gymnasiale Lehrplan
fordert. Lesen und Verstehen des Notentextes sollen das unbedingte
Ziel aller Vorübungen sein, ebenso wie verschiedene stilistische
Merkmale schon in den Leersaitenstücken zum Einsatz kommen.
Auch zeitgenössische Techniken des Streichinstrumentenspiels
werden zumindest ansatzweise eingeführt, bleiben ansonsten
aber leider ein Stiefkind der vorhandenen Literatur. Die vorgestellten
Stücke arbeiten oft mit „Lücken“: spielt
der Kontrabass, müssen die Geigen schweigen und umgekehrt,
sodass die Kinder gefordert sind, die Stimmen der anderen mitzulesen,
respektive innerlich zu hören.
Regine Schultz-Greiner referierte zum Thema Streicherklassen in
der Grundschule. Die Schätzelberg-Schule, eine der musikbetonten
Grundschulen Berlins, bietet derzeit Klassenunterricht für
die zweite bis vierte Klasse an. Dafür werden alle interessierten
Schüler der zweiten Klassen zusammengefasst und in zwei Randstunden
gemeinsam unterrichtet. Der Unterricht findet zweimal wöchentlich
statt und wird von drei Lehrkräften im Team erteilt. Er ist
auf drei Jahre angelegt und soll auch für die Klassenstufen
fünf und sechs als Gruppenunterricht erhalten bleiben (die
Berliner Grundschule umfasst sechs Klassenstufen). Da das Berliner
Modell der musikbetonten Grundschule einzigartig ist, entfallen
viele Probleme, die sonst entstehen. Die Lehrkräfte sind fest
angestellt und in das Kollegium eingebunden, die Schulleitung unterstützt
das musische Angebot, der Unterricht ist für die Kinder kostenfrei.
Da es sinnvoll ist, schon in frühem Alter mit der Streicherausbildung
zu beginnen, ist dies sicher ein Erfolg versprechender Ansatz.
Leider ist der Fortbestand der Musikbetonung in der jetzigen Form
in Bezug auf die finanzielle und personelle Ausstattung nicht gesichert.
Zu fragen wäre darüber hinaus, inwieweit eine Weiterbetreuung
der streichenden Schulabgänger durch die Musikschule gewährleistet
ist und wie man finanziell schwache Familien durch Stipendien oder Ähnliches
entlastet. Gerade angesichts der derzeitigen Situation der Berliner
Musikschule bleiben hier viele Fragen offen.
Probleme in der Umsetzung
Bernd Zingsem lud zur Gesprächsrunde zum Thema Musikschule
und Streicherklassenunterricht. Da er das erste Modell einer Streicherklasse
an einer Bochumer Gesamtschule mit Hilfe der Musikschule ins Leben
gerufen hat, verfügt er über eine reiche Erfahrung bezüglich
der Möglichkeiten und Schwierigkeiten einer Zusammenarbeit,
besonders vor dem Hintergrund der vielfältigen Schulformen
in Deutschland. Kooperationen gibt es derzeit an Gymnasien oder
Gesamtschulen, auch die Grundschule ist durch die Ganztagsangebote
sehr an einer Zusammenarbeit interessiert. Hauptschule und Realschule
sind leider fast „musikfrei“, einige Projekte mit Bläserklassen
in Realschulen zeigen allerdings gute Resultate. In den Grundschulen
liegt das Haupthindernis in der geringen Zahl qualifizierter Musiklehrkräfte.
So zeigte sich auch im Erfahrungsaustausch, dass die meisten Teilnehmer
an Gymnasien unterrichteten, die Gruppengrößen lagen
zwischen 12 und 24 Schülern. Klagen gab es über organisatorische
Dinge wie Räumlichkeiten, schlechte Zusammenarbeit mit den
Musiklehrern bei klassenübergreifenden Gruppen bis hin zu
persönlichen Problemen im Team.
Die Finanzierung der Instrumentallehrkräfte übernehmen
meistens die Eltern der beteiligten Kinder, oft über Musikschulentgelte,
teilweise auch über Fördervereine. Bernd Zingsem
hob hervor, dass der beträchtliche Mehraufwand der Musikschullehrkraft,
den ein Klassenunterricht erfordert, von Seiten der Musikschulen
nur in den seltensten Fällen in Form von Regiezeiten oder
Abgeltungsstunden gewürdigt wird. Er forderte, eine Stunde
Vorbereitungszeit pro unterrichteter Klassenstunde zu vergüten.
Bis jetzt setzt man auf den Idealismus der Lehrkräfte. Auch
die unterschiedliche Bezahlung des Schulmusikers und des Musikschullehrers
macht das Arbeiten im Team oft nicht einfach, zumal der Schulmusiker
durch seine tägliche Anwesenheit in der Schule sicher eher
eine Art „Hausrecht“ hat als der nur sporadisch erscheinende
Musikschullehrer.
Zur großen Diskussionsrunde hatte man Helga Boldt als Mitglied
der Enquete-Kommission Kultur des deutschen Bundestages und die
stellvertretende Leiterin der Musikschule Kreuzberg-Friedrichshain
Ulrike Philippi geladen. Bernd Zingsem betonte, dass es nicht darum
ginge, den traditionellen Einzelunterricht zu ersetzen, sondern
dass es angesichts sich verändernder sozialer Gegebenheiten
wichtig sei, die Musik auf neuen Wegen breiten Schichten zugänglich
zu machen. Er stellte darüber hinaus klar, dass sich die derzeit
laufenden Projekte zumeist auf die fünfte und sechste Klasse
bezögen, das heißt für eine mögliche spätere
Berufstätigkeit als Streicher viel zu spät ansetzten.
In diesem Zusammenhang hob er hervor, dass auch die Musikschulen,
trotz ihrer studienvorbereitenden Abteilungen, eigentlich Institutionen
der Laienbildung seien. Da die Programme des Streicherklassenunterrichts
lediglich auf zwei Jahre angelegt sind, müsse die Musikschule
verstärkt Konzepte für Folgeangebote für die vielen
Streicher erarbeiten.
Aufwertung der
vermittelnden Berufe
Helga Boldt wies darauf hin, dass an den Musikhochschulen derzeit
Musiker ausgebildet werden, für die gar keine Arbeitsplätze
mehr existieren. Sie verlangte eine Aufwertung der Musik vermittelnden
Berufe gegenüber den Solisten und Orchestermusikern. Allgemein
wurde beklagt, dass an den Musikhochschulen nach wie vor das alte
Schüler-Meister-Verhältnis vorherrsche und die lehrenden
Professoren wenig Interesse an alternativen Unterrichtsformen zeigten.
So fühlen sich die meisten Instrumentalpädagogen überfordert,
wenn sie in der Musikschule plötzlich Gruppen- oder gar Klassenunterricht
erteilen müssten.
Hier gibt es neuerdings Ansätze der Hochschulen, im Rahmen
der neuen Studienordnung Module zu diesem Thema innerhalb der pädagogischen
Abteilung anzubieten. Die Universität der Künste Berlin
bietet beispielsweise Praktika in den musikbetonten Grundschulen
an. Auch das neue Programm „JeKi“ wirft die Frage auf,
wie Unterricht, vielleicht sogar mit gemischten Instrumenten, gestaltet
werden kann. Hier ist zuallererst eine Kontrolle der Unterrichtsqualität
gefordert. Eine gute Voraussetzung ist, dass dieser Unterricht
etwa in Bochum ausschließlich mit fest angestellten Lehrern
erfolgen soll.
In Deutschland ist zum Thema Musikvermittlung, angestoßen
durch die Erfolge in Venezuela, aber auch durch die Veränderung
der Schullandschaft, die Frage der Integration von Immigrantenkindern
und die Zunahme bildungsferner Schichten schon Einiges in Bewegung
gekommen. Manches muss sich aber noch bewähren. Wichtig scheint
dabei nicht nur die Frage, wie instrumentaltechnische und musikalische
Grundfertigkeiten vermittelt werden können, sondern wie musikalische
Erziehung in einen Gesamtzusammenhang ästhetischer Bildung
gestellt werden kann. Um die Schüler „da abholen zu
können, wo sie stehen“, muss der Lehrer wissen, wo er
sie hinbringen will. Aktiver Musikunterricht, soll er nicht seinen
Anspruch auch als wissenschaftliches Schulfach verlieren, muss
ein Bild der gesamten Musik vermitteln und das beinhaltet auch
Auseinandersetzung mit „schwieriger“ Musik. Zu fragen
bleibt: Beugen wir uns dem Diktat der Alltagsmusik oder schaffen
wir es, die Kinder auch für Ungehörtes zu begeistern?