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nmz-archiv
nmz 2008/07 | Seite 49
57. Jahrgang | Juli/Aug.
Bücher
Improvisation, Reharmonisation, Komposition
Andreas Kissenbecks zweibändige Jazztheorie verlässt
einschlägige Schützengräben
Andreas Kissenbeck: Jazztheorie, Bärenreiter, Kassel u.a.
2007, Band I: Harmonik und Skalen, 122 S., Notenbsp., € 14,95,
ISBN 978-3-7618-1966-1; Band II: Improvisation mit Melodien und
Voicings, 119 S., Notenbsp., € 14,95, ISBN 978-3-7618-1967-8, als
Paket: € 25,95, ISBN 978-3-7618-1968-8
Noch ein Jazztheoriebuch? In skeptischer Grundstimmung könnte
einem dazu zunächst Karl Valentin einfallen („Es ist
schon alles gesagt, nur noch nicht von allen“). Aber auch
ohne spöttelnde Attitüde dürfte die Frage danach,
ob in den zahlreichen Veröffentlichungen der letzten Jahrzehnte
nicht alles gesagt wurde, was zum theoretischen Apparat des Jazz
gesagt werden kann, einer gewissen Berechtigung nicht entbehren.
Jeder Autor, der sich mit der Materie beschäftigt hat, plädiert
aus verständlichen Gründen im Vorwort für die Gewichtigkeit
seiner Sicht der Dinge und ihrer Darstellung. Selbstverständlich
liefert auch Andreas Kissenbeck in Kapitel 0 des ersten Bandes
seiner zweibändigen Jazztheorie eine sich abgrenzende Legitimation
dieser Art, allein: Kissenbecks Perspektive trägt auch die
Tendenz zur Zusammenschau und Würdigung musiktheoretischen
Denkens aller Epochen und ihrer Ausrichtung auf musikalische Prozesse
im Jazz in sich. Nicht die Darstellung individueller, personengebundener
Modelle steht im Mittelpunkt, sondern die Entwicklung eines theoretischen
Koordinatensystems mit eher synoptischem Charakter. In einer sehr
schlüssig entworfenen Einführung in die theoretischen
Grundlagen und auch im weiteren Verlauf des Buches werden Komponisten
und Theoretiker unterschiedlichster Provenienz wie beispielsweise
Hindemith, Schönberg, Rameau, Riemann, Sechter und so weiter
immer wieder an geeigneter Stelle zur Verdeutlichung oder auch
zur Provokation von Widerspruch herangezogen. Der Jazztheorie tut
dieser Blick über den Zaun ausnehmend gut, ja manchmal rückt
er das Bezugssystem Ursache – Wirkung aus dem historischen
Blickwinkel heraus erst gerade.
Auf wohltuende Art und Weise werden die beiden – gemessen
am Zeitraum ihrer Verwendung – wohl wichtigsten Darstellungsmodelle
harmonischer Progression, nämlich Funktionsmodell und Stufenmodell
in ihren Stärken und Schwächen dargestellt, gegenübergestellt
und schließlich gemäß eines sinnvollen, weitgehend
ideologiefreien Einsatzes ihren möglichen Aufgabenbereichen
zugeordnet. Die Schützengräben vieler Theoriewerke weichen
hier einem sachlichen Abwägen. Und dass dies auf dem Feld
der meist stufenorientierten Jazztheorie stattfindet, darf als
besonders bemerkenswert bezeichnet werden. Erfreulich ist auch
der Hinweis Kissenbecks auf die analytische Nutzlosigkeit jeglicher
Art von Darstellungsmodellen, sofern die mit ihrer Hilfe gewonnenen
Erkenntnisse nicht genutzt werden, um auf übergeordnete Zusammenhänge
hinzuweisen. Genau um diesen Aspekt gruppieren sich die beiden
Bände seines Ansatzes: Befasst sich der erste Band mit einer
Materialschau, der hierarchisch sinnvoll abgestuften Darstellung
von Bezugssystemen (Skalen und Akkordbildungen) innerhalb ihrer
Wahrnehmungskategorien, so zielt der Folgeband auf die methodische
Verwertung der zuvor vorgenommenen kognitiven Aufbereitung im Sinne
der Heranbildung improvisatorischer Kompetenz im melodischen wie
auch harmonischen Bereich. Dass der Autor hier im Vorwort von Band
2 die Verwendung anderer Theoriewerke zum Erwerb der Grundlagenkenntnisse
an Stelle des eigenen ersten Bandes freistellt, erscheint generös
und inkonsequent zugleich: Die Beschäftigung mit der Denkweise,
der aufbauenden Systematik und der Sprache des ersten Bandes erleichtert
das Verständnis der Darstellung des Weges in improvisatorisches
Tun mit Hilfe einer aus dem theoretischen Bodensatz entwickelten
Modellvorstellung in Band 2 erheblich.Denn klarer, induktiver Aufbau,
strukturelle Klarheit (Kernbegriffe werden grundsätzlich von
vielen Seiten neutral beleuchtet), sinnvoller Einbezug unterschiedlichster
Quellen einerseits und teilweise hohe Abstraktion in Form von blanken
Verweisen auf andere Kapitel und auf die Thesen anderer Autoren,
griffige Beispiele aus dem Repertoire in eher “homöopathischen
Dosen“ andererseits (die drei ausführlichen Analysen
in Bd. 2 ausgenommen) sind die zwei komplementären Gesichter
des Werkes.
Auch ohne die Absicht der direkten Umsetzung in ein verbessertes
Improvisationsvermögen: Man liest gerne und teilweise auch
fasziniert in den beiden Büchern, erfreut sich an der selten
anzutreffenden informativen Reichhaltigkeit der Fußnoten
und an der methodischen Folgerichtigkeit in der Kapitelhierarchie.
Exemplarisch sei hier der Abschnitt Reharmonisation genannt, welcher
sich aus der Vorarbeit so knapp und übersichtlich wie selten
ergibt.
Kissenbecks Bewusstsein darüber, dass theoretische Reflexion
und ungesteuerte Intuition Gegengewichte bilden müssen, scheint
auch in den hermetisch wirkenden Passagen auf wohltuende Art und
Weise immer wieder durch und wird in der Auswahl des abschließenden
Hindemith-Zitats plastisch spürbar.