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nmz-archiv
nmz 2008/07 | Seite 48
57. Jahrgang | Juli/Aug.
Rezensionen - DVD
Visionen eines christlichen Agnostikers
Tony Palmers Filmbiographie zum 50. Todestag des großen Engländers
Ralph Vaughan Williams
„O Thou Transcendent“. The Life of Ralph Vaughan Williams. Ein Film von Tony Palmer
TPDVD106 (Naxos)
R.V.W.: Während diese drei Buchstaben hierzulande eher Assoziationen
an ein Wolfsburger Joint Venture auslösen, genügt die
liebevolle Abkürzung in England, um eine musikalische Tradition
heraufzubeschwören. „The Lark ascending“, „Fantasia
on a Theme by Thomas Tallis“, „Linden Lea“ oder „A
London Symphony“ – kaum ein anderer Komponist
des 20. Jahrhunderts hat sich im musikalischen Gedächtnis
Englands ähnlich intensiv eingeschrieben wie Ralph Vaughan
Williams, dessen Todestag sich Ende August zum 50. Mal jährt.
In England zunächst als Erneuerer und später als Vaterfigur
einer neuen Generation anerkannt und verehrt, hat sich seine Musik
in Deutschland kaum durchsetzen können. Mit Skepsis und oft
genug auch arroganter Selbstgefälligkeit maß man seine
herberen Werke an den Errungenschaften der Neuen Wiener Schule,
seine die selbst gesammelten Volkslieder fortschreibenden Melodien
an dem radikaleren Bartók und tat – Werktitel wie „A
Pastoral Symphony“ oberflächlich zur Kenntnis nehmend – einen
Großteil seiner Musik als laue Evokationen idyllischer Naturzustände
ab. Eine entsprechend geringe Rolle spielt Vaughan Williams hier
auch im Konzertsaal.
Neben zahlreichen Tonträgern, die Interessierten schon seit
längerer Zeit die Möglichkeit eines differenzierteren
Bildes bieten, liegt nun pünktlich zum Gedenkjahr eine zweieinhalbstündige
Dokumentation des renommierten Musikverfilmers Tony Palmer auf
DVD vor, die zunächst einmal durch die schiere Materialfülle
und die ausführlichen Klangbeispiele besticht. Zentrale Werke
werden nicht nur kurz angespielt, sondern immerhin so lange, um
sich einen ersten repräsentativen Eindruck zu verschaffen.
Wichtigster, eigens für den Film engagierter Klangkörper
hierfür ist das National Youth Orchestra, dessen Gründung
R.V.W. unterstützt hatte. Die immergleiche indirekte Beleuchtung
der Musiker nutzt sich als Effekt schnell ab, zumindest gilt in
diesen Passagen aber die Konzentration ganz der Musik.
Ansonsten ist die wenig stringent zwischen biographischen Stationen
und thematischen Blöcken variierende Struktur des Films allerdings
immer wieder dazu angetan, die Aufmerksamkeit von den Werken selbst
ab- und auf einen leider oftmals diffus bleibenden Kontext oder
vermuteten inneren Gehalt hinzulenken. So verkommt – weil
musikalische Kommentare fehlen – die für englische Verhältnisse
durchaus kompromisslose vierte Symphonie zum Selbstporträt
eines zornigen Mannes, der an seiner Ehe mit einer an den Rollstuhl
gefesselten Frau verzweifelt. Die Sechste wird chronologisch falsch
mit dem ersten Weltkrieg assoziiert, den R.V.W. an der Front miterlebte.
Wirr und an der Grenze des Geschmacklosen angesiedelt, schiebt
Palmer Gräuelbilder von aktuellen Konfliktherden und startenden
Kampfflugzeugen dazwischen und degradiert somit einige der stärksten
Passagen von Vaughan Williams’ Musik zu einem fragwürdigen
Soundtrack. Zur „Sea Symphony“ schließlich, jener
in der Verbindung von Chor und symphonischem Apparat überwältigenden
Walt-Whitman-Apotheose, bekommen wir tosendes Meerbrausen und verheerende Überschwemmungen
zu sehen. In Sachen Filmästhetik also „Land unter“,
Sänger-aufnahmen vor mystisch-unscharfen Kirchenfenstern und
hubschrauberbeflogene Landschaften komplettieren das traurige Bild.
Gut, dass einige der zahllosen Interviewpartner (vor allem Stephen
Johnson und Michael Kennedy) wenigstens etwas zu sagen haben über
den sympathischen, manchen Widerspruch in seiner Person vereinigenden
Menschen Vaughan Williams: den christlichen Agnostiker, der zwei
Jahre lang an einer Neuausgabe des „English Hymnal“ arbeitete
und dessen sakrale oder sakral inspirierte Werke immer einen tiefen
Zweifel in sich tragen; den weltoffenen Patrioten, der in Deutschland
(bei Max Bruch) und Frankreich (bei Maurice Ravel) studierte, um
dann eine spezifisch englische Musiksprache zu entwickeln; den
fortschrittlichen Traditionalisten, der bei manchen Werken
der jüngeren Generation ostentativ einzuschlafen pflegte,
gleichzeitig aber das herumschlampende London Philharmonic Orchestra
mit seiner ganzen Autorität dazu anhielt, dem Neuling Britten
und seinem Werk „Our hunting fathers“ eine faire Chance
zu geben.
Ein solche Chance hätten neben den Symphonien auch viele ebenso
originelle wie gelungene Werke Vaughan Williams’ verdient: „Flos
Campi“ etwa für Solobratsche, Chorvokalisen und kleines
Orchester, die Liedzyklen „Songs of Travel“ und „On
Wenlock Edge“ (letzterer mit Klavierquintettbegleitung) oder
die einaktige Oper „Riders to the sea“. Groß scheinen
die Hoffnungen in die Exportchancen des großen Engländers
allerdings nicht zu sein: Die DVD ist nur im englischen Original
verfügbar, Untertitel Fehlanzeige.