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nmz-archiv
nmz 2008/07 | Seite 35
57. Jahrgang | Juli/Aug.
Arbeitskreis
Musik in der Jugend
Lieder, die nicht sterben dürfen
Zu einem Kurs zum Thema Volkslied
Zahllose Untersuchungen, Berichte und Kommentare weisen auf die
Bedeutung von Volksliedern hin. Aber: Wer kennt diese Lieder noch?
Wer singt sie? Und: Wer gibt sie weiter? Die Idee zu dem Kurs „Lieder,
die nicht sterben dürfen“ entstand nicht nur aus diesen
gesellschaftspolitischen Fragen, sondern auch, weil die Mitglieder
des Verbandes AMJ die alten Lieder einfach mögen und erschrocken
waren, wie viele, vor allem jüngere Menschen sie weder kennen
noch singen können.
Bereits zum vierten Mal veranstaltete der AMJ daher einen Kurs
zu diesem Thema. Es ist an der Zeit, Erfahrungen auszuwerten: In
Kindergärten und Grundschulklassen wird häufig lieber „My
bonny is over the ocean“ und „Meine Tante aus Marokko“ gesungen.
Natürlich haben wir nichts gegen diese Lieder, die selbstverständlich
ihren Platz neben allen anderen neuen Liedern haben. Doch die Schatzsuche
bringt auch immer wieder verborgene und vergessene Volkslieder
zum Vorschein. Durch Kurse wie „Lieder, die nicht sterben
dürfen“ werden diese wieder zum Leben erweckt. Denn:
Wenn wir diese Lieder nicht jetzt singend weitergeben, werden sie
in zwei Generationen oder sogar noch früher verschwunden sein.
Die Teilnehmenden aus den Volkslied-Kursen setzen sich aus mehreren
Generationen zusammen. Viele ältere Menschen können noch
die zweite und dritte Strophe der Volkslieder auswendig.
Die 68er-Generation rümpfte oftmals die Nase über Volkslieder
(„Ach ja, das Lied vom Mond, der aufgegangen ist, kommt mir
irgendwie bekannt vor“), waren doch zahlreiche Lieder durch
das Regime im Dritten Reich missbraucht worden. Eine gebrochene
Tradition, mit der wir leben! Engländer, Schweden, Italiener,
Spanier, Franzosen et cetera schauen uns manches Mal verständnislos
an, wenn es heißt: „Singt doch auch mal ein Lied aus
eurem Land!“ Verlegene Blicke werden ausgetauscht. Und wir
Norddeutschen bekommen vielleicht gerade die ersten Zeilen von: „Ick
heff mol’n Hamburger Veermaster sehn“ hin…
Inzwischen sind die Teilnehmer dieser Volkslied-Kurse sehr gemischt.
Großeltern, Lehrer/-innen, Chorsänger/-innen, Mütter,
Väter, Menschen in sozialen Berufen, Musiker, doch leider
wenig Studierende oder Erzieher/-innen in Ausbildung. Ein Fünftel
der Teilnehmenden sind Männer, auch wenn einer davon zugab,
nur „mitgeschleppt“ worden zu sein. Bei allen anderen
jedoch bestand die Motivation, diesen Kurs zu besuchen, aus Neugier
und dem Wunsch, Melodien und Texte wieder aufzufrischen und „einfach
mal wieder zu singen“.
Die Mischung der circa 45 ausgesuchten Lieder ging von bekannten
Liedern („Ach, ja, kenn ich, aber mit Mühe nur die erste
Strophe“) über vergessene („Das hat meine Mutter
mir immer vorgesungen“) bis hin zu unbekannten Kostbarkeiten
(„Ich wusste ja gar nicht, wie schön die sind“).
Vieles eröffnet sich völlig neu beim Singen dieser Lieder:
Wir entdecken beispielsweise, welch großer schöner Melodienbogen
durch eine Quinte am Anfang eines Liedes entsteht (bei „Nach
grüner Farb‘ mein Herz verlangt“ oder bei „So
treiben wir den Winter aus“ sowie „Es geht eine dunkle
Wolk` herein“). Die Teilnehmenden entdecken hier auch Melodie-Verwandtschaften
und die dennoch ganz verschiedenen Aussagen in den Texten. Wir
erspüren beim Singen des Liedes „Wie schön blüht
uns der Maien“, dass das Lied viel zu schnell aufhört
und um zwei Takte verlängert erst vollständig wäre.
Die Teilnehmenden erhalten aber auch viele (Neu-)Informationen
zu den Textdichtern. Viele wissen, dass Hoffmann von Fallersleben
den Text für das Deutschlandlied geliefert hat. Wer jedoch
weiß, dass er auch den Text für eine große Zahl
von Volks- und Kinderliedern schrieb? „Der Kuckuck und der
Esel“, „Muss i denn zum Städele hinaus“, „Summ,
summ, summ“, „Alle Vögel sind schon da“ und
viele andere Liedtexte schrieb Hoffmann von Fallersleben, während
er als politisch Verfolgter im Exil lebte. So entsteht eine andere
Aussage, wenn bei dem Volkslied „Kuckuck ruft‘s aus
dem Wald“ die Zeile „Frühling wird es nun bald!“ nicht
nur den Frühling als willkommene Jahreszeit begrüßt,
sondern auch Hoffnung in die neuen Bürgerrechte in Deutschland
setzt. Die Suche nach versteckten Symbolen in den Volksliedern,
wie etwa Rose, Brunnen, Morgenröte, Nachtigall, Schwan, Perlen
und Hirsch lässt uns die Lieder mit einem tiefen Sinn für
Erkenntnis, Gefühl und alten Bildern in uns singen.
Alle Teilnehmer erhalten zusätzlich auch einen Einblick in
die musikalische Struktur der Volkslieder. Kleine rhythmische Veränderungen
sorgen dafür, dass etwa die Melodie von „Ward ein Blümchen
mir geschenket“ zur geglätteten Form von „Taler,
Taler, du musst wandern“ wird. So „ausgestattet“ werden
die Volkslieder nicht nur gesungen und aufgefrischt, sondern bekommen
den Platz, der ihnen gebührt. Dass eine doch immer größer
werdende Zahl von Menschen diesen wichtigen Platz im Herzen spürt,
mag ein Jubiläums-Konzert der Kölner Kantorei unter der
Leitung von Volker Hempfling zeigen. Als im letzten Teil des Programms
Volkslieder aus der „Loreley“ in neuen Chorsätzen
erklangen, hatte das Publikum Tränen in den Augen.
Der AMJ wird im nächsten Jahr das Kinder- und Jugendchorfestival
EUROTREFF mit dem Thema „Europäisches Volkslied“ veranstalten.
Zahlreiche internationale Referenten bringen Lieder aus ihrer Heimat
mit. Und die deutschen Workshopleiter werden mit den teilnehmenden
Jugendlichen deutsche Volkslieder im modernen Gewand einstudieren.
So wird ein wichtiges Thema, das Weitergeben von Volksliedern,
im Miteinander gepflegt.