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2008/07 | Seite 35
57. Jahrgang | Juli/Aug.
Deutscher Musikrat
Ungewöhnliche dramaturgische Konzepte
Ein Interview mit Sönke Lentz, Projektleiter des Bundesjugendorchesters
Quell vielfältiger Überraschungen, beruflicher Wegbereiter,
Tourneeveranstalter, Begegnungsstätte, musikalischer Olymp – das
Bundesjugendorchester (BJO) ist vieles, zweierlei aber ganz sicher:
ein Klangkörper mit über 100 jungen Leuten, der auf nahezu
unvergleichlich hohem Niveau sinfonische Musik präsentiert
und ein Projekt, das sich in den letzten Jahren einer beständigen
Häutung hin zur Professionalität unterzogen hat, so dass
man inzwischen, mit knapp 40 Jahren, im internationalen Konzertbetrieb
in der obersten Liga spielt. Mit dem Projektleiter des BJO, Sönke
Lentz, sprach Susanne Fließ.
Susanne Fließ: Wer Mitglied
im BJO ist, die Arbeitsphasen mitgemacht hat und dann ein Musikstudium
aufnimmt, hat nicht nur
vielfältige Literatur kennengelernt, sondern vermutlich auch
ein realistisches Bild vom Berufsmusiker? Sönke Lentz: In der Tat ist das die wichtigste
Aufgabe dieses Projektes. Wir wollen eine Entscheidungshilfe für die Jugendlichen
sein und eine erste Antwort auf Fragen geben, wie: „Kann
ich mir vorstellen, jeden Abend im Orchestergraben oder auf einer
Bühne zu sitzen?“
Den Unterschied zum späteren Berufsalltag machen andererseits
die vielen spektakulären Konzerte kurz hintereinander in schönen
Konzertsälen aus. Solche prominenten Tourneen bleiben vielen
der kleineren Profiorchester leider verwehrt. Auch in der Probenanzahl
sind wir besser ausgestattet. Es bleibt jedem mehr Zeit, sich mit
dem aktuellen Programm auseinanderzusetzen.
Fließ: Was ist denn zuerst
da, das Programm für die
nächste Arbeitsphase oder die Besetzung? Lentz: Zunächst entsteht das Programm, das die Projektleitung
und der Dirigent der kommenden Arbeitsphase gemeinsam entwickeln.
Dabei stehen künstlerische aber auch pädagogische Kriterien
im Vordergrund. Der Beirat des Orchesters hat dazu Leitlinien formuliert.
Ginge es nur nach den Mitgliedern des BJO, würden wohl nur
die großen „Kracher“ gespielt. Absicht ist jedoch,
die Klassiker mit selten gespiel-
ten Werken zu kombinieren und daraus ungewöhnliche dramaturgische
Konzepte zu entwickeln.
Transsibirische Eisenbahn
So haben wir uns im nächsten Januar das Thema „Transsibirische
Eisenbahn“ gesetzt: Die virtuelle Reise beginnt mit Arthur
Honeggers „Pacific 231“, findet ihre Fortsetzung mit
dem „Feuervogel“ von Igor Strawinsky und endet – nach
einem Zwischenstopp in der Mongolei – in China mit dem „Paper
Concerto“ von Tan Dun. Große Papierbahnen werden dann
von der Bühnendecke hängen, auf denen drei Papiersolisten
spielen werden. Für den musikalischen Zwischenstopp haben
wir einen mongolischen Obertonsänger und einen Pferdekopf-Geiger
engagiert. Beide studieren bereits mit einer kleinen Gruppe des
BJO Stücke ein und unterrichten im Obertongesang.
Fließ: Müssen denn derartig spektakuläre Stücke
auf dem Programm stehen, damit das BJO für Veranstalter und
jugendliche Musiker attraktiv bleibt? Lentz: Nein. Einzelnen Veranstaltern sind unsere
Programme mitunter sogar zu spektakulär. Sie wollen eher Gewohntes und Bekanntes
für ihr Konzertpublikum.
Der Wert der Konzerte liegt eigentlich im Orchester selbst: Konzertveranstalter
wissen inzwischen längst, wer das BJO ist, und rechnen mit
dem Überraschungseffekt von jugendlicher Begeisterungsfähigkeit
und hohem Niveau. Auf diese beiden Faktoren werden viele Konzerte
geplant und erzeugen ein enthusiastisches Publikum.
Für die jungen Leute bestehen die Reize in klug konzipierten
Programmen, die am Ende den meisten Spaß machen. Im Sommer
werden wir Detlev Glanerts „Theatrum Bestiarum“ neben
Mahlers „Lied von der Erde“ setzen. Schon jetzt ist
die Freude darauf groß!
Fließ: Wird das Bundesjugendorchester
auch für repräsentative
Aufgaben der Regierung angefragt? Lentz: Die Frage, die bei allen Plänen und Anfragen positiv
beantwortet werden muss, lautet: Sind diese Aktivitäten auch
pädagogisch sinnvoll, bringen sie also einen Mehrwert für
die Jugendlichen? Unter dieser Prämisse steht das BJO für
repräsentative Aufgaben gerne bereit. Beispielsweise hat ein
Quintett des BJO bei der Vereidigung von Bundespräsident Horst
Köhler im Bundestag gespielt. Unsere Osteuropa-Tournee fand
im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft statt.
Offene Türen
Im Ausland werden wir stark von den Deutschen Botschaften eingeladen,
um dem Gastland und den diplomatischen Corps der anderen Länder
das Niveau der musikalischen Jugendarbeit in Deutschland vorzustellen.
In der Folge öffnet uns das wiederum Türen für die
Finanzierung der Auslandsreisen durch Mittel des Auswärtigen
Amtes und des Goethe-Instituts.
Fließ: Für die Mitwirkung in diesem attraktiven Orchester
schlägt der eine oder die andere auch schon mal eine Einladung
in ein Landesjugendorchester (LJO) aus … Lentz: Wir sehen die ganze deutsche Jugendorchesterlandschaft
wie ein Stufenmodell in dem man mit steigendem Können bis zum
BJO gelangt. Hat man im LJO eine sehr gute Leistung erbracht und
möchte weiterkommen, kann man beim BJO vorspielen. Im besten
Fall empfehlen die LJOs sogar den Wechsel. Die Einzelleistungen
und damit auch das gesamte Orchester sind in einer höheren
Liga als die LJOs, weil wir aus einem vergleichsweise großen
Reservoir an Musikern schöpfen können. So können
wir gerade im Bereich der Neuen Musik schwere Werke erarbeiten,
die in einem LJO nicht realisierbar wären. Ich denke da zum
Beispiel an das Viola-Konzert von Mark-Anthony Turnage das wir
mit Tabea Zimmermann aufgeführt haben oder für 2009 das
Trompetenkonzert von Olga Neuwirth mit Reinhold Friedrich.
Ü
ber die Jeunesses Musicales Deutschland haben wir die jährliche
Konferenz der LJOs, des BJO und der Deutschen Streicherphilharmonie
eingerichtet und besprechen anstehende Themen. Immer dringlicher
wurde die bedauerliche Feststellung der letzten Konferenz, dass
es ein ernsthaftes Nachwuchsproblem im Fach Kontrabass gibt. Es
wäre dringend notwendig, gemeinsam mit anderen Partnern oder
Projekten dieses Instrument weiter zu unterstützen!
Fließ: Gibt es Projekte, die das BJO gemeinsam
mit anderen Projekten im Deutschen Musikrat realisiert? Lentz: Zwischen „Jugend musiziert“ und dem BJO gibt
es von Anbeginn eine „natürliche“ Kooperation.
Für die Preisträger des Wettbewerbs ist das BJO eine
wichtige Anschlussmaßnahme. Andersherum tun sich Mitglieder
des BJO auf den Phasen zu kleinen Ensembles zusammen, um bei „Jugend
musiziert“ mitzumachen, in diesem Jahr erzielten fast ein
Drittel aller Mitglieder dort einen 1. Bundespreis. Eine wichtige
Kooperation ist auch die mit dem Dirigentenforum. Immer wieder
können wir einem Stipendiaten eine Assistenz bei unserem Dirigenten
ermöglichen. Zum Bundesjazz-
orchester, manifestierte sich die Kooperation in einer Arbeitsphase
im Jahr 2003 und einer, die wir für das Jahr 2009 geplant
haben: Auf der Deutschland- und Südafrika-Tournee werden wir
gemeinsam symphonischen Jazz präsentieren. Darüber hinaus
gibt es zum Beispiel bei Kompositionsaufträgen einen Link
zu den Projekten der zeitgenössischen Musik.
Fließ: Wie lässt sich die Finanzierung
all dieser Aktivitäten
langfristig sicherstellen? Lentz: Neben den bisherigen treuen Förderern arbeiten einige
Ehemalige des Orchesters seit kurzem an der Gründung einer
Stiftung. Zurzeit werden alle Ehemaligen, die wir erreichen können
angeschrieben, um den finanziellen Grundstock für diese Stiftung
zusammenzubekommen.
Darüber hinaus werden auch Menschen, die nicht zum engsten
Kreis des BJO gehören, angesprochen. Innerhalb von fünf
Jahren, so der Plan, soll diese Stiftung neben dem Bundesjugendministerium,
dem WDR, der DOV, der Daimler AG und eigenen Mitteln zur vierten
Säule der Finanzierung des BJO werden.
Auf lange Sicht soll die Stiftung auch dazu beitragen, die hoffnungslos
unterbesetzte Personalsituation zu verbessern. Vergleichbare Orchester
haben bei gleicher Tourneetätigkeit doppelt so viel Personal!
Fließ: In welche Brillanz man hier investiert, sieht man
an den jüngsten Kooperationen ... Lentz: Wir freuen uns sehr, dass die Berliner Philharmoniker das
BJO stärker und stärker unterstützen und wir nun
jährlich bei ihnen zu Gast sein dürfen. Hinzu kommen
Einladungen in den Musikverein Wien, nach Salzburg und, wenn alles
klappt, zu einer Art Sommer-Residency während der Kulturhauptstadt-Phase
in der Philharmonie Essen. Darüber hinaus möchte Sir
Simon Rattle nach einer ersten Probe nun mit dem Orchester weiterarbeiten,
und auch mit Christoph von Dohnányi, Sir Roger Norrington
und Christoph Eschenbach suchen wir derzeit gemeinsame Termine.