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nmz-archiv
nmz 2008/07 | Seite 32
57. Jahrgang | Juli/Aug.
Deutscher
Tonkünstler Verband
Ein freundlicher Musik-Gelehrter
Zum Tod des Musikwissenschaftlers Rainer Cadenbach
Das Joseph-Joachim-Fest 2007 ist nun zur letzten großen
Veranstaltung geworden, bei der ich mit Rainer Cadenbach zusammenarbeiten
und zusammen sein konnte. Unerwartet ist der Musikwissenschaftler,
Professor an der Berliner Universität der Künste, nach
kurzer Krankheit in der Nacht vom 22. auf den 23. Mai dieses Jahres
viel zu früh gestorben.
Das Abschlusskonzert des erwähnten Jubiläumsfestes wird
mir in Erinnerung bleiben. Auf dem Programm stand Brahms’ Streichsextett
G-Dur op. 36, doch stellte sich am Vorabend heraus, dass der 3.
und 4. Satz nicht aufgeführt werden konnten. Unmittelbar vor
dem Konzert sah ich Cadenbach auf dem Fahrrad kommen, gesundheitlich
bedingt fuhr er sehr vorsichtig. Ich fragte mich, was jetzt passieren,
wie er die ungute Botschaft verkünden und wie sie die große
Zahl der Zuhörer wohl aufnehmen würden. Dann begann das
Konzert, und Cadenbach strahlte in seiner Moderation jene Gelassenheit
und Ruhe aus, die man von ihm seit jeher kannte und der sich jedes
Publikum gern anvertraute. Unter den Eingeweihten war ich nicht
der einzige, der dachte, die beiden Sätze würden doch
noch erklingen. Keinerlei Umstellung des Programms, kein Hinweis
auf Ausfälle! Als nach gelungenem Verlauf des größeren
Teils des Konzerts das fragliche Sextett anzusagen war, schaute
Cadenbach mit heiterer Miene, Zuversicht ausstrahlend, einen Augenblick
lang schweigend ins Publikum, sprach dann wie beiläufig über
plötzlich aufgetretene Schwierigkeiten bei musikalischen Aufführungen,
an denen Joachim vor mehr als hundert Jahren beteiligt war, und
erklärte dann mit historisch solide wirkender Begründung
die ersten beiden Sätze des Sextetts zur „Joachim’schen
Fassung“. Gelächter im Publikum, ein besonders freundlicher
Applaus für die Ausführenden, als sie das Podium betraten – dank
einer glänzenden Rettungsaktion des Moderators.
Cadenbachs Art, Konzerte zu moderieren, ist unvergleichlich.
Er war meisterhaft in der Lage, musikalische Werke unterhaltsam,
aber
auf höchstem Niveau, im besten Sinne geistreich und mit stupender
Bildung zu kommentieren. Er verkörperte Bildung, geradezu
eine menschenfreundliche Gelehrsamkeit, ohne Bildungspathos. Im
Plauderton lehrte er das Vergnügen an Musik und steigerte
es durch seine die Konzertatmosphäre gestaltende, stets freie
Rede – ein „irdisches Vergnügen in Gott“.
Die Form des mit musikalischen Aufführungen verbundenen wissenschaftlichen
Symposions ist für mich mit seiner Person aufs Engste verbunden.
Immer wieder hat er sich der Mühe unterzogen, Künstler
und Wissenschaftler zusammenzubringen, und die enorme organisatorische
wie diplomatische Kleinarbeit solcher Projekte auf sich genommen.
Die E-Mails, die man als Mitstreiter bekam, wiesen oft ein mitternächtliches
Sendedatum hin.
Im Juli 1944 in der Nähe von Kassel geboren, studierte Rainer
Cadenbach im gediegenen, eher traditionalistischen Milieu der Universitätsstadt
Bonn; er war rheinisch geworden, ein Protestant, der eine katholische
Rheinländerin heiratete. Von Altphilologie, Germanistik und
Philosophie kommend, der Richtung seiner Neigungen allmählich
folgend, gelangte er zur Musik als Beruf. Seine philosophische
Dissertation widmet sich dem Begriff des musikalischen Kunstwerks
(1977). Er habilitierte sich mit akribischen Untersuchungen zu
Max Regers Skizzen und Entwürfen (1985). In Bonn leitete er
das studentische Symphonieorchester; das Instrument, das er selbst
spielte, ist das Cello. Cadenbach hatte das Glück, nach einer
erfolgreichen Gastprofessur 1989 einen Ruf an die Hochschule der
Künste in Berlin zu erhalten, denn dieser Ort entsprach seinem
Bedürfnis nach Nähe zur Musikpraxis in idealer Weise.
Hier, an der heutigen Universität der Künste, blieb er.
Cadenbachs wissenschaftliche Interessen, seine zahlreichen Publikationen
sind beinahe ein Spiegelbild des vielseitigen Musiklebens, in das
er eintauchte; sie lassen sich kaum auf einen Nenner bringen. Einige
Schwerpunkte sind deutlich: Musikästhetik, Beethoven und seine
Rezeption, Reger, die Geschichte des Streichquartetts, in den letzten
Jahren auch die Musik polnischer Komponisten. Im Kern seiner wissenschaftlichen
Arbeit blieb er von der in Bonn angeeigneten Verbindung von musikalischer
Analyse, ästhetischer Reflexion und Biographik geprägt;
auf Basisarbeiten wie Editionen legte er Wert. Manche andere Ansätze
der Musikforschung unterstützte er, ohne sich ihnen immer
wirklich anzuschließen. Seine Komponisten-Monografie „Max
Reger und seine Zeit“ (1991) zeigt eine beinahe klassisch
zu nennende Erzählhaltung. Überlegungen aus seinen Skizzenforschungen
brachte er in das Graduiertenkolleg „Praxis und Theorie des
künstlerischen Schaffensprozesses“ ein, in dem er die
Musikwissenschaft vertrat. Er richtete eine Beethoven-Forschungsstelle
ein, die ein umfangreiches Handbuch „Beethoven
aus der Sicht seiner Zeitgenossen“ soeben fertigstellt.
Rainer Cadenbach war ein geselliger Mensch, der gesellschaftliche
Pflichten ernst nahm. Mit einer sympathischen Treue widmete er
sich auch kleineren Themen, die ihm durch seine Ämter auferlegt
oder nahegebracht wurden. Er war, wie man heute sagt, gut vernetzt,
aber er gehörte nicht zu den Machtmenschen unter den Professoren.
Stets höflich und freundlich, ist sein Wesen moderat.
Ich habe ihn nie klagen gehört, obwohl auch er dazu Anlass
gehabt haben mag. Sein Buch über Haydns Symphonien, das angekündigt
ist und auf einem jahrelangen, von ihm betreuten und moderierten,
noch unabgeschlossenen Stuttgarter Aufführungszyklus beruht,
würde ich sehr gern lesen, weil ich glaube, dass ihm dieses
Thema gemäß ist. Ich weiß nicht, ob es so weit
gediehen ist, dass es erscheinen kann.