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nmz-archiv
nmz 2008/07 | Seite 29
57. Jahrgang | Juli/Aug.
Verbandspolitik
Es gibt keine richtige oder falsche Chorliteratur
Die neue musikzeitung im Gespräch mit Wolfram Kössler,
Generalsekretär des Arbeitskreises Musik in der Jugend (AMJ)
Singen scheint das Einfachste von der Welt zu sein und auch das
Schwierigste. Einfach, weil man nichts weiter als seine Stimme
braucht, schwierig, weil viele sich des Singens schämen und
oft auch kaum noch Repertoirekenntnisse haben. Abhilfe kann in
beiden Fällen der Arbeitskreis Musik in der Jugend – AMJ – schaffen. Über
die Geschichte des AMJ, aktuelle kulturpolitische Herausforderungen
und über die Renaissance des Singens sprach Susanne Fließ mit
dem Generalsekretär des AMJ, Wolfram Kössler.
neue musikzeitung:
Der AMJ – Arbeitskreis Musik in der Jugend – wurde
1947 gegründet und ist damit ein echtes Kind der Nachkriegszeit.
Musste das gemeinsame Singen damals bereits gerettet werden? Wolfram Kössler: Gegründet wurde der AMJ als ein Netzwerk
von musikinteressierten Menschen in Hamburg, damals noch unter
dem Namen „Musikantengilde“. Das Liedgut sollte aus
dem ideologischen Sumpf des Nationalsozialismus‘ gezogen
und von allem „Völkischen“ befreit werden. Man
wollte das Singen in den Dienst einer neuen Zeit stellen und Brücken
zu anderen Ländern schlagen. Die Gründung des AMJ hatte
also kulturpolitische Ursachen. Anhand unserer Mitgliedszahlen
in den einzelnen Bundesländern kann man übrigens deutlich
sehen, dass in Hamburg bis heute der größte AMJ-Landesverband
ansässig ist. Der Schwerpunkt sollte jedoch von Anfang an
auch auf der Ausbildung künftiger Musikerzieher liegen. Als
der AMJ dann 1978 vom Verlagshaus Möseler Räumlichkeiten
angeboten bekam, zog die Geschäftsstelle nach Wolfenbüttel
um. Seitdem arbeiten wir dort mit vier festen Mitarbeitern als
eingetragener Verein. Vor kurzem wurde eine Stiftung gegründet,
deren Ziel es ist, die Arbeit des AMJ langfristig zu sichern. Wir
wollen mit diesem Schritt Weichen stellen, um nachhaltig wirken
zu können. Jeder Spender ist uns willkommen. Nähere Informationen
hierzu finden Sie unter www.amj-musik.de.
Wolfram
Kössler. Foto: Fria Hagen
nmz: Wann haben Sie denn
das erste Mal vom AMJ gehört? Kössler: Ich komme ursprünglich aus der Verlagswelt.
Nach einer Ausbildung zum Verlagskaufmann, einem Studium der Verlagswirtschaft
und meiner Tätigkeit in der Öffentlichkeitsarbeit beim
Musikverlag Schott in Mainz sowie meiner Selbständigkeit als
Inhaber einer Künstler- und Konzertagentur bin ich nun seit
einem Jahr Generalsekretär beim AMJ. Den Verband kenne ich
seit vielen Jahren, weil ich leidenschaftlicher Chorsänger
bin. Jahrelang habe ich bei Heinz Hennig im Knabenchor Hannover
gesungen, es folgten einige Jahre beim Kammerchor „I Vocalisti“ in
Lübeck und beim Dresdner Kammerchor. Da der AMJ zwei größere
Chorfestivals organisiert, die Internationale Jugendkammerchorbegegnung
auf Usedom und den EUROTREFF in Wolfenbüttel, waren mir die
Arbeit und das Engagement des AMJ geläufig. Auch das umfangreiche
Kursprogramm hielt ich damals schon in den Händen. Und eine
Nachbarin ist früher immer mit dem AMJ in die französisch-deutschen
Musikferien in die Bretagne gefahren.
nmz: Nun gibt es ja eine Reihe
von Verbänden, die sich um
das Singen in Chören kümmern. Wie grenzt sich der AMJ
zu den Aktivitäten anderer Verbände ab? Kössler: Ich denke, dass wir als einziger Chorverband ein
so umfangreiches Weiterbildungsangebot bereithalten – und
dies nicht nur für das Instrument Stimme. Doch der Begriff „abgrenzen“ gefällt
mir nicht. Die sechs Chorverbände in Deutschland haben ein
gemeinsames Ziel: die Förderung des Singens. Singen fördert
wiederum die Intelligenz und das Sozialverhalten, darüber
gibt es umfangreiche Studien. Die Mitglieder des AMJ sind größtenteils
Kinder- und Jugendchöre beziehungsweise die Personen, die
daraus hervorgegangen sind und nun ihrerseits unterrichten oder
in Laien- oder semiprofessionellen Chören singen.
nmz: Wie
zufrieden sind Sie denn mit der Wahrnehmung des AMJ in der Öffentlichkeit? Kössler: Bei unserer Zielgruppe bin ich überaus zufrieden!
Der AMJ wird als wichtiger Trägerverband für Kinder-
und Jugendbildung wahrgenommen. Allerdings macht es uns die Ganztagsschule
nicht leicht, Kinder für den Musikunterricht in der Freizeit
zu erreichen. Auch das Prozedere der Anerkennung unserer Fortbildungskurse
als Weiterbildung für Lehrkräfte ist innerhalb der einzelnen
Bundesländer höchst unterschiedlich und wird von Jahr
zu Jahr komplizierter. Es wäre ein großer Fortschritt,
wenn das harmonisiert und vereinfacht werden könnte. Bundesweit
entsteht so eine paradoxe Situation: Einerseits werden ganze „Chorklassen“ eingerichtet,
in denen Kinder eine Stunde pro Woche zusätzlich Musikunterricht
erhalten, andererseits gibt es schon jetzt Regionen in Deutschland,
wo händeringend nach qualifiziertem Fachpersonal in Schulen
gesucht wird.
nmz: Nun kann man auch als Einzelperson und als Familie
im AMJ Mitglied werden, das heißt, Ihre Werbung richtet sich
im Prinzip auch an viele tausend interessierte Einzelpersonen? Kössler: In der Tat erscheint unser Kursjahresplan in einer
Auflage von 22.000 Exemplaren und geht an Privathaushalte, an Musikschulen,
an unsere Mitgliedschöre und Einzelmitglieder. Darüber
hinaus bemustern wir natürlich auch die Verantwortlichen in
Politik und Gesellschaft, um sie kontinuierlich auf unsere Arbeit
aufmerksam zu machen. Unsere Verbandszeitschrift „Intervalle“ wird ähnlich
breit gestreut. Seit 2002 gehen wir ein bisschen „spartenfremd“ und
erreichen so weitere Interessentengruppen: Mit der Uniklinik Leipzig
organisieren wir im Februar jeden Jahres ein Symposium zur „Kinder-
und Jugendstimme“. Die Teilnehmenden setzen sich aus Medizinern,
Musiklehrern in Schulen und Musikschulen, freien Gesangsdozenten
und Chorleitern zusammen.
nmz:Hat der AMJ neue Projekte in Planung? Kössler: Das nächste große Projekt ist die 7. Internationale
Jugend-Kammerchorbegegnung Usedom mit acht Jugendchören aus
ganz Europa. 270 Jugendliche werden für neun Tage in Workshops
unter der Leitung einer Amerikanerin, einer Deutschen und eines
Italieners gemeinsam musikalisch arbeiten und Chormusik vieler
Epochen und Stile einstudieren.
In Planung sind Angebote für junge Menschen mit Migrationshintergrund
und für die Multiplikatoren, die mit diesen Jugendlichen täglich
arbeiten. So bieten wir in diesem Jahr erstmals einen Wochenendkurs
an mit dem Titel: „Fremdes Lied im Nachbarhaus“. Ich
bin sehr optimistisch, dass wir hier auf lange Sicht sehr viel
erreichen können, vor allem, wenn wir mit anderen Verbänden
zusammenarbeiten. Zum Beispiel gibt es eine enge Kooperation mit
dem Verband deutscher Musikschulen (VdM) oder der Bundesvereinigung
kulturelle Jugendbildung (BKJ). Dort spielen neben der Musik auch
andere Kultursparten wie Tanz, Theater oder Film eine Rolle. Bei
den parlamentarischen Abenden der BKJ kamen wir in intensiven Kontakt
mit Abgeordneten, die wir auch in Zukunft in unsere Informationsarbeit
einbeziehen werden und von denen ich sicher weiß, dass Sie
den AMJ in seiner Kulturarbeit unterstützen wollen.
nmz: Haben
Sie den Eindruck, dass Jugendliche innerhalb und außerhalb
der Schulen wieder mehr singen? Kössler: Wenn ich mich an meine eigene Schulzeit erinnere,
so war das Singen in der Schule beinahe verpönt. Wir
wurden im Musikunterricht „ruhiggestellt“, indem man
uns die Beatles vorspielte und den Kontakt zur mehrstimmigen modernen
Chorliteratur höchstens durch das Singen ihrer Songs herzustellen
versuchte. Spätestens seit Anfang der 90er-Jahre erhielt wieder
die Erkenntnis Einzug, dass das Singen das Sozialverhalten positiv
beeinflusst und zu Kreativität anleitet. Singen ist also auf
dem Weg, in den Schulen zu einer festen Einrichtung zu werden.
Auch im Bereich musikalischer Früherziehung gibt es ein Umdenken
auf breiter Ebene.
nmz: Welche Literatur wird in den Schulen gesungen? Kössler: Der Einfluss von „DSDS“ ist gerade bei
den Schülern nicht zu übersehen. Englischsprachige Lieder
und Popmusik sind sehr beliebt, aber auch deutsche Volkslieder
erleben derzeit eine Renaissance in den Schulen. Attraktivität
gewinnen sie überdies, weil es inzwischen eindrucksvolle Arrangements
davon gibt. Insofern kann man weder von „richtiger“ noch „falscher“ Chorliteratur
sprechen. Unser Ziel ist es, mit unserem Kursangebot und als Verband
dafür zu sorgen, dass sich die Gesellschaft durch das gemeinsame
Singen positiv verändert. Ich wäre nicht Generalsekretär
dieses Verbandes, wenn ich nicht fest daran glauben würde!