Stuttgarter Bachakademie vergab Kompositionsaufträge für
eine Passion 2000
Die Stuttgarter Bachakademie und ihr künstlerischer Leiter
Helmuth Rilling haben in den vergangenen beiden Jahrzehnten Bach
so ausgiebig präsentiert, bis hin zur vollmundig als Jahrtausendedition
hochgepowerten CD-Edition des Gesamtwerks, dass zum Bach-Jahr 2000
keine Steigerung mehr möglich schien. So hat man im Haus an
der Stuttgarter Hasenbergsteige eine kühne Volte in die Zukunft
geschlagen und vier zeitgenössische Komponisten gebeten, die
zentralen Passionsberichte der Bibel mit den Mitteln der heutigen
Musik zu vertonen.
Wer
befürchtet hatte, dass sich die Omnipräsenz der beiden
überlieferten großen Passionen Bachs einschüchternd,
ja lähmend auswirken könnte, sah sich angenehm enttäuscht.
Die dramatischen Ereignisse der von den vier Evangelisten Matthäus,
Markus, Lukas und Johannes niedergeschriebenen Leidensgeschichte
des Gottessohnes lassen jenseits einer im engeren Sinne christlichen
Textexegese unterschiedliche musikalische Zugänge zu,
die die vier verschiedenen Kulturkreisen entstammenden Komponisten
Tan Dun, Osvaldo Golijov, Sofia Gubaidulina und Wolfgang Rihm denn
auch ergriffen haben.
Zwar stand Bachs Johannes-Passion programmatisch am
Beginn des zweiwöchigen Europäischen Musikfestes
aber auch hier nicht in einer retrospektiven, sondern in einer nach
vorne gerichteten Interpretation durch Joshua Rifkin, der überzeugend
unter Beweis stellte, dass seiner fundamentalistischen Auslegung
der zeitgenössischen Aufführungspraxis wohl die Zukunft
gehört. Mit der Chortradition des romantischen 19. Jahrhunderts
wird hier radikal aufgeräumt: zu den vier Gesangssolisten treten
vier Ripienisten, so dass jede Chorstimme nur mit zwei Sängern
beziehungsweise Sängerinnen besetzt ist. Die atmende Klarheit
dieser auf Zurückhaltung und nicht mehr auf Repräsentation
setzenden Lesart ist überwältigend und schlägt unbeabsichtigt,
aber wie selbstverständlich die Brücke zur Water
Passion after St. Matthew des in New York lebenden chinesischen
Komponisten Tan Dun.
Tan Dun
Dun, der zu den Kultkomponisten der amerikanischen Postmoderne
gehört, verbindet in seinem fast zweistündigen Werk Elemente
der fernöstlichen mit der westlichen Musiktradition zu einer
faszinierenden Einheit. Am Anfang seiner musikalischen Vision der
Passionsgeschichte stehen die Elemente: 17 durchsichtige, beleuchtete
Wasserschalen sind in Form eines Kreuzes auf der Bühne angeordnet.
Die Passion vollzieht sich im Zeichen des Wassers von der
Taufe im Jordan bis zur Auferstehung , mit Klängen, in
denen Naturlaute und Kunsttöne immer wieder aneinandergrenzen,
sich ablösen, ja sich vermischen.
Die Wassergeräusche verbinden sich mit den oft melismatisch
fremdartigen Klängen der beiden einzigen Streicher einer
Violine und einem Cello , tibetanischer Mönchsgesang
mit gregorianischer Psalmodie, das Spiel mit geschliffenen Steinen
mit dem Flüstern und den Schreien des Chores. Duns Ziel ist
es, das religiöse Geschehen magisch zu überwölben
was ihm oft, aber nicht immer gelingt. Wenn am Ende alle
Mitwirkenden zu den Wasserschalen gehen, um ihre Hände darin
einzutauchen, wird das Ritual zum Kunstgewerbe. Dun, der seine Water
Passion in acht Szenen eingeteilt hat, hält die Spannung
die nur gegen Ende, in den etwas allzu vordergründigen
Perkussionsklängen des Erdbebens und der choralartigen Wasserprozession
der Auferstehung nachlässt mit den Mitteln eines souverän
disponierenden Klangregisseurs aufrecht. Die von ihm selbst geleitete
Aufführung unter anderem mit dem in allen Artikulationsarten
firmen RIAS-Kammerchor sowie den beiden Vokalsolisten Elizabeth
Keusch und Stephen Bryant war von hohem ästhetischem
Reiz, der gewiss auch der eindrucksvollen halbszenischen Präsentation
zuzuschreiben ist. Ob er hält, was er suggeriert, können
erst weitere Begegnungen mit dem Werk erweisen.
Osvaldo Golijov
In krassem Gegensatz zu Tan Duns Water Passion stand
die Pasión Según San Marcos, die Markuspassion
des wie Dun heute in New York lebenden Osvaldo Golijov. Der 1960
in Argentinien als Sohn russisch-jüdischer Einwanderer geborene
Golijov ist weniger wählerisch und weniger überzeugend
in seinen Mitteln als Dun. Auch Golijov geht es um Darstellung und
Ritual. Er versetzt seinen dunklen Jesus, der ihn an
den kubanischen Revolutionär Ché Guevara erinnert, in
die karnevaleske Kultur Lateinamerikas mit ihren afrokubanischen
Rhythmen, schreckt selbst vor seifigen Popballaden nicht zurück
und verquirlt am Schluss auch noch das Kaddish, das jüdische
Totengebet, mit den Flamenco- und Samba-Tänzen. Und zu einer
philharmonisch kolorierten Folklorepostkarte geriet auch die von
der Schola Cantorum de Caracas unter Maria Guinand perfekt, aber
naiv hochgeputschte Aufführung, die einen schalen Nachgeschmack
hinterließ.
Komponierte Folklore ist weder Folklore noch Konzertmusik, sondern
landet zumal in dieser kitschigen Mischung aus Tanzpalast
und Popsong im Niemandsland des Crossover. Golijovs Passionsmusical
besitzt nichts vom Aufruhr, vom Schmerz und der rituellen Anarchie
der synkretistischen afrokubanischen Kultur, sondern eignet sich
als gezähmte schwarze Messe geradewegs für den Broadway,
wo es wohl auch landen wird.
Wenn zwei dasselbe tun, machen sie nicht das Gleiche. Dieses Sprichwort
bewährte sich nicht nur an Tan Duns und Osvaldo Golijovs Versuch,
den Gründungsmythos des abendländischen Christentums von
außereuropäischen Kulturen her zu beleuchten, sondern
auch an den so unterschiedlichen Werken, mit denen der agnostische
Nietzscheaner Wolfgang Rihm und die gläubige Russin Sofia Gubaidulina
die schwierige Aufgabe einer existentiellen Vergegenwärtigung
des biblischen Berichts übernommen haben.
Wolfgang Rihm
Rihm, für den Religion, wie er im Gespräch gesagt hat,
Ehrfurcht vor dem Namenlosen ist, ging mit der bei ihm
gewohnten Mischung aus Reflexion und Zielstrebigkeit ans Werk. Seine
Lukaspassion DEUS PASSUS. Passions-Stücke nach
Lukas zeigt in ihrer dramatischen Anlage und musikalischen
Gestalt am deutlichsten die Auseinandersetzung mit dem Vorbild Bach.
Zwar ordnet Rihm den Solisten keine Rollen zu. Selbst der Passionsbericht
wird kollektiv vorgetragen und damit gleichsam namenlos
in die Distanz gerückt.
Aber Rihm sucht nach modernen Entsprechungen von Bachs musikalischer
Textausdeutung. Auch seine Passion, über weite Strecken eine
in sich hinein erklingende Musik des Schweigens und der Stille,
kennt neben dem Evangelistenbericht dramatische Turba-Chöre
und reflektierende ariose Episoden, deren Texte Rihm der lateinischen
Karfreitagsliturgie entnommen hat. Am Schluss tritt er mit der Vertonung
von Paul Celans Gedicht Tenebrae aus der biblischen
Vorlage heraus und verknüpft dergestalt das christologische
Heilsgeschehen mit dem Martyrium des jüdischen Volkes in den
Vernichtungslagern des nazistischen Holocaust.
Rihms Musik ist fast durchweg kammermusikalisch karg, kaum dramatisch
akzentuiert, im Gegenteil ganz verinnerlicht und auf einen Mahlerschen
Abschiedston gestimmt, der hohen Respekt abnötigt. Aufs Ganze
gesehen macht sich freilich bei dieser Reise ins Innere des leidenden
Gottes eine gewisse Spannungs- und Sprachlosigkeit, ja neue
Milde breit, als habe Rihm sich aus allzu großer Zurückhaltung
dem Stoff gegenüber eine zupackendere Gestaltung versagt.
Sofia Gubaidulina
Gubaidulinas Johannes-Passion beginnt und endet mit
einer hymnischen Überhöhung nicht, wie zu erwarten
wäre, der Auferstehung, sondern der Vertonung der ersten Verse
des Johannes-Evangeliums Im Anfang war das Wort, und das Wort
war bei Gott.... Orgelcluster, Röhrenglocken und Chorjubel
verkünden den logos spermatikos, die Lehre von der Göttlichkeit
der Schrift. Ob dies Gubaidulinas letztes Wort bleiben
wird, muss sich erst noch erweisen, da das Werk so die Komponistin
um einen letzten Satz erweitert werden soll. Die Uraufführung
war, trotz des zeitweiligen Ausfalls des elektronischen Zuspielbandes,
ein triumphaler Erfolg für Werk und Komponistin. Valery Gergiev
hielt mit geradezu besessener Energie das riesige Aufgebot des Petersburger
Mariinsky-Theaters zusammen, aus dem der Bassist Genady Bezzubenkov
herausragte.
Insgesamt war das Wagnis, das die Bachakademie mit den vier Auftragskompositionen
einging, ein voller Erfolg übrigens auch beim Publikum
der stets ausverkauften Stuttgarter Liederhalle. Bachs Passionen
dominieren die Gattung auf eine Weise, dass jeder gelungenen, ja
selbst auch den nur respektheischenden Vertonungen der biblischen
Passion höchste Aufmerksamkeit zukommt. Im Vergleich mit Gubaidulinas
Johannes-Passion verblasst Pendereckis einstiger Welterfolg
der Lukas-Passion, und selbst die in ihrer musikalischen
Askese faszinierende Johannes-Passion von Arvo Pärt.