Der Alltag hält Einzug bei den 40. Darmstädter Ferienkursen
für Neue Musik
In den späten 80er- und frühen 90er-Jahren war das weltweit
geschätzte Arditti-Streichquartett bei den Darmstädter
Ferienkursen für Neue Musik eine Art quartet in residence.
In jeweils mehreren Konzertblöcken wurden epochale Werke wie
Pierre Boulez Livre pour Quatuor, Luigi Nonos
Fragmente Stille, An Diotima oder Helmut Lachenmanns
zweites Streichquartett Reigen seliger Geister exemplarisch
vorgestellt. Die Liste der Ur- und deutschen Erstaufführungen
von zeitgenössischer Quartettliteratur der mittleren und jungen
Komponistengeneration ist noch um einiges länger. Anders als
das in den achtziger Jahren ebenfalls in Darmstadt gastierende Kronos-Quartett
aus Los Angeles gaben die englischen Musiker um Primarius Irvine
Arditti ihre Fertigkeiten auch als Kursdozenten weiter. Ihren Darmstädter
Zenit erreichte das Arditti-Streichquartett 1990 mit der Aufführung
von John Cages von Stille durchdrungenem Werk Four in
Anwesenheit des Komponisten. Es gibt kein Streichquartett,
das den Ardittis das Wasser reichen kann!, lobte John Cage
die fabelhaften Vier.
Beim Gastkonzert des Hessischen Rundfunks in Darmstadt überzeugte
das Arditti-Streichquartett erneut mit Werken von John Cage, Jakob
Ullmann und Arnold Schönberg. Die Programmdramaturgie ließ
aufmerken. Der Unterschied in der geforderten Intonation und Ereignisdichte
hätte nicht größer sein können. Klangen Cages
harmonisch ausgedünnte Chorsätze aus der frühen amerikanischen
Musik in der Version für Streichquartett wie gottesehrfürchtig
gespielter Lutherchoräle in weiter Wildnis, streckenweise auch
wie Renaissancegamben, so erreichten die Musiker in Schönbergs
klassizistisch-dodekaphonem viertem Streichquartett nach anfänglichen
Umstellungsproblemen doch rasch die nötige Expression und kontrapunktische
Transparenz.
Das Arditti-Streichquartett.
Foto: Charlotte Oswald
Bei der Uraufführung von Jakob Ullmanns zweitem Streichquartett
wurde schnell klar, warum sich das Arditti-Quartett die weniger
klanglich spröde als überaus leise Komposition nach einem
vertagten ersten Versuch im letzten Jahr in Frankfurt erst jetzt,
nach einer ausreichenden Probenphase im Hessischen Rundfunk, zutraute.
Das zwischen säuselnder, geräuschhafter Außenseite
und kaum wahrnehmbaren, streckenweise dennoch sehr ausgeprägtem
Akkordspiel angesiedelte Werk konkurrierte mit den Nebengeräuschen
des Publikums in Darmstadts Orangerie. Als dadurch selbst erzeugter
Spannungsbogen wuchs die Aufmerksamkeit im Saal, womit Ullmann die
Wahrnehmung der Zuhörer aktiv verändern konnte: Während
der gut fünfundzwanzig Minuten Dauer hätte man mehrmals
eine Stecknadel fallen hören. Derart konzentriert spielend
und hörend, konnten auch die hinter den unterschiedlichen Reibgeräuschen
des Bogens verborgenen, tatsächliche Tonhöhen kurzzeitig
aus den Instrumenten hervorlugen und so etwas wie Melodie andeuten.
Mit Beat Furrer, Toshio Hosokawa, Isabel Mundry, Olga Neuwirth,
Rebecca Saunders, Slavatore Sciarrino und Hans Zender war die Riege
der Dozenten für Komposition sehr seriös, überschauber,
facettenreich und auch hochkarätig besetzt. Dass die mehrmals
während der Ferienkurse miteinander als Ensemble und alleine
konzertierenden Instrumentaldozenten deren Werke aufführten,
untermauerte das integrierende Konzept Solf Schaefers und erlaubte
die Vertiefung in unterschiedliche Personalstile und deren intensive
Diskussion. Da nähern sich die Kurse wieder dem frühen
Ideal. Zudem wurde in den Konzerten des Ensembles Recherche aus
Freiburg, dem Ensemble BIT20 aus Norwegen, dem Experimentalstudio
der Heinrich-Strobel-Stiftung des SWR, dem französischen Ensemble
Court-Circuit und dem Klangforum Wien das breite Vokabular der Neuen
Musik zwischen Schönbergs Expressionismus und Lachenmanns Umfunktionierung
der traditionellen in immer wieder neu zu erfindende Instrumente
eindrucksvoll vorgeführt. Beat Furrers flüsternde Aria,
Rebecca Saunders klingender Bewusstseinsstrom Crimson-Mollys
Song I und Salvator Sciarrinos Rascheln von Nadelhölzern
in Un fruscio lungo trentanni (Ein dreißig
Jahre langes Rauschen) stehen exemplarisch für die weiträumige
Bandbreite zeitgenössischen Komponierens.
Bei den Dozentenkonzerten fielen besonders positiv auf: Reinbert
Ewers (Gitarre) mit Christoph Neidhöfers spieltechnisch kaleidoskophafter,
klopf- und rutschfreudiger Schau Nach Innen, Carin Levine
(Flöte) mit der Uraufführung von Helmut Zapfs atavistischer,
impulsiver, urmutterhaft gespielter Komposition Albedo für
Flöten und elektronisches Zuspielband und Uwe Dierksen
(Posaune) mit der Uraufführung von Helmut Oehrings sehr ziehintensivem,
hocherregtem Werk Philipp für Posaune solo. Per
Handyverbindung hörte der erkrankte Oehring mit.
Regenrinnen und Schüsseln
Mehrere Pausen zwischen den knappen Instrumentaleinsätzen
dehnte die Uraufführung der kurzen Twelve pieces
von James Saunders auf gut zehn Minuten Länge. Das noch wenig
bekannte Ensemble Suono Mobile aus Freiburg und Karlsruhe profilierte
sich mehr noch mit Mathias Spahlingers Objet trouvé-Musik
éphémère für schlagzeug, veritable
instrumente und klavier aus dem Jahr 1977. Auf Regenrinnen,
Emailschüsseln, Plastiklinealen und anderen diversen Alltagsgegenständen
spielte das junge Ensemble eine punktuell swingende, nicht immer
zwingende Musik. Auf welcher ideologischen Seite Spahlinger den
parodistischen Ho Chi Minh-Arm mit der Heckenschere angesiedelt
hat, blieb offen. Mancher Vater wünschte sie sich zur Entstehungszeit
des Werks insgeheim für die damals oppositionelle Haartracht
des Sprösslings. Heute trägt der Alte selber Zopf.
Drei Kompositionsprofessoren der Frankfurter Musikhochschule sorgten
für eine sehr facettenreiche Auslegung des zeitgenössischen
Musikbegriffs. Die uraufgeführten Werke von Gerhard Müller-Hornbach,
Isabel Mundry und Rolf Riehm sind gleichermaßen subjektiv
durchdrungen, zutiefst persönlich gefärbt und in ihren
kontrastierenden Erscheinungen unverwechselbar. Damit wird weder
eine romantische Originalästhetik wiederbelebt, noch soll ein
genius loci der Neuen Musik im Rhein-Main-Gebiet beschworen werden.
Letzteres widerspräche ohnehin dem für alle Himmels- und
Kunstrichtungen offenen Konzept der Sommeruniversität in Darmstadts
backsteinerner Georg-Büchner-Schule.
Am nächsten an die materialinnovative und ebenso politisch
motivierte Auslegung des Begriffs Neue Musik, wie sie einst Adorno
definierte, kam Rolf Riehms sehr konsequentes Ensemblestück
Hawking für acht Instrumente. Mit enervierenden
Wirbeln und Einzelschlägen auf der Großen Trommel, mit
weit gespreizten Registermischungen zwischen Bassklarinette, Piccoloflöte
und Oboe und mit sirenenartigen Mahnrufen aus gepresstem Bogenstrich
des Violoncellos setzte das hochkonzentriert spielende Ensemble
Recherche Riehms vertontes Leiden der Kreatur (gemeint ist der schwerbehinderte
Astrophysiker Stephen Hawking) wirkungsvoll in klingende Szene.
Dass dabei der zugegebenermaßen bis an die Schmerzgrenze gehende
Dynamikbereich der großen Trommel ausgeschöpft wurde,
bestätigte nur Schopenhauers These vom Willen im Ding. Auf
und vor dem Podium platzte nirgends ein Trommelfell. Riehm zeigte
sich mit seiner urverknallten Komposition abermals als gänzlich
trendunabhängiger Musikarbeiter.
Leise Musik in Sakralbauten
Ganz genau Hinhören und Hinsehen mussten die Besucher in Darmstadts
Schenk-Hallen, einer Industriebrache am Stadtrand. Unter der künstlerischen
Leitung von Gerhard Müller-Hornbach und der Klanginstallateurin
Christina Kubisch verwandelten sich die mehrschiffigen Hallen zu
schlichten, romanisch anmutenden Sakralbauten. Von wo aus einst
Präzisionswaagen in alle Welt versandt wurden, entstand in
Müller-Hornbachs leiser Musik für Onnen Bocks Woonraum
nun ein vollkommenes Gleichgewicht zwischen klingendem und greifbarem
Interieur. Unmerklich, aber im Leisen umso nachhaltiger wurden wellenartige
Celloklänge und nasale Obertöne von versteckten Mikrofonen
in ein vielschichtig arbeitendes Computerprogramm geleitet, dessen
dialogisch säuselnde Klangverarbeitung über die vorhandenen
Fernsehlautsprecher und andere Schallmembranen dieses gutbürgerlichen
Wohnzimmers direkt wieder abgestrahlt wurden: Eine Inselmusik, deren
Wahrnehmungsintensität gerade durch dynamische Reduktion entstand.
Schraffierte Stille war die Inspirationsquelle für Isabel
Mundrys traces des moments für Streichtrio, Klarinette
und Akkordeon. Inspirationsimpuls für den Kompositionsauftrag
der Wissenschaftsstadt Darmstadt war die Begegnung mit japanischen
Steingärten. Geharkte Linien in den Kieselflächen, der
samten-haarige Moosbewuchs auf größeren Steinflächen
und das Spiel des Windes auf dem Wasser übersetzte Mundry frei
von jedem Exotismus in unabhängig musikalische Kompositionsstrukturen.
Aus den botanischen Oberflächen generierte sie über einen
sehr persönlichen Aneignungsprozess instrumental ineinander
greifende Erregungszustände. So wurden aus zweidimensionalen
Schraffierungen raumgreifende Resonanzen und klangliche Schattierungen.
Mundrys Musik klang hier verhalten, aber nicht zurückhaltend.
Mit Knopftremoli und atmendem Balg des Akkordeons (Teodore Anzellotti),
plötzlich auffahrendem Gestus und nachfederndem Bogenspiel,
vom exzellenten Ensemble Recherche besonders im zweiten der beiden
Sätze betont, macht die 1963 geborene Komponistin hörbar,
mit welcher kompositorischen Differenzierung heute eine Subjektivität
möglich ist, die keine Privatsache bleibt.
Alltägliche Wassermusik
Die Spülschüssel oder Zinkwanne ist zum festen Inventar
des instrumentalen Theaters geworden. Seit Mauricio Kagels Akustika
für experimentelle Klangerzeuger vor dreißig Jahren fließt
die alltagsgegenständliche Wassermusik zwischen ironischer
Brechung und streng klanglicher Ästhetisierung durch zahlreiche
Werke. Bei den diesjährigen Internationalen Darmstädter
Ferienkursen für Neue Musik stand sie während der von
Jazz-Rock-Musik durchdrungenen Ensemblekomposition A Thought
in a Mirror der Gruppe MAVIS nun schon zum vierten Mal auf
der Bühne.
In Vinko Globokars doppelbödigem Dialog über Erde
stand sie für eines der vier Elemente, in Mathias Spahlingers
politisch motiviertem éphémère
hingen die Emailschüsseln am Perkussionsgalgen zwecks Verklanglichung
alltäglicher Unterjochung. In Salvatore Sciarrinos Un
fruscio lungo trentanni (Ein dreißig Jahre langes
Rauschen) spielte der Schlagzeuger Isao Nakamura in der Orangerie
Kapitän beim Verrühren jener Fichtennadeln, die beim Rascheln
der aufgebotenen Tannenzweige in die Wanne hinabgefallen waren
Badetag in Darmstadt.
Im Mirror-Werk war der Wanneneinsatz nur von kurzer
Dauer, wirkte aber in seiner Flüchtigkeit umso intensiver und
bot mithin den Schlüssel zum Verständnis der treibenden
und von Gitarrist Jan Koslowski mit virtuosem Fingerspiel durchflochtenen
Komposition.
Mitten in dem von Ensemble-Modern-Mitglied Uwe Dierksen zeitlich
streng strukturierten Werk für zwei Blechbläser, Stimme,
Gitarre, E-Bass, Schlagzeug und Keyboards füllte die farbige
Sängerin Louise Mills aus London ein umgedrehtes Schlagzeugbecken
mit Wasser und flößt es dem gerade Tuba spielenden Gérard
Bouquet in den Schalltrichter. Mit der eher beiläufigen Aktion
zwischen dem Spielen von subkulturellen schönen Stellen
wurde das Bild eines Brunnens evoziert, aus dem das Leben spendende
Wasser, auch Metapher des Bewusstseins, von Kontinent zu Kontinent
und von Kultur zu Kultur hinüberschwappte. So verwies die schauspielernde
Sängerin mit ihrer archaischen Geste zwischen ihren balladesken
Einsätzen auf die afrikanischen Wurzeln der westlichen Jazz-,
Rock- und Popmusik im Kontext zeitgenössischen Komponierens.
Die Stilmittel der legendären Jazz-Combo Weather Report
mit ihren einfachen Bläserharmonien über ätherisch
singenden Bassläufen und der Geist der größten Als-Ob-Komponisten
des Jazz und Rock, Frank Zappa, wurden in der Centralstation ohnehin
ständig beschworen. Hatte man es sich als Hörer in den
furiosen Soli des soundtüftelnden Gitarristen Koslowski oder
im traurigen Bistrostil einer Akkordeonband gemütlich gemacht,
wurde die so zustande gekommene Authentizität der musikalischen
Stimmung von tiefem Posaunengeraune zerbröselt. Schade, dachte
man, und ließ sich von dem melodisch nicht immer einfallsreichen,
improvisatorisch aber mitreißenden Jazz-Rock-Spektakel mit
kabarettistischen Intermezzi gerne weitertreiben: Schooldays
(Stanley Clarke) bei den Ferienkursen oder frei nach dem Musikwissenschaftler
Carl Dahlhaus: Das ästhetisch Alte ersetzt das Neue.