Populäre Musik nach 1945 in der Bundesrepublik und der DDR,
Teil I · Von Christine Wagner
Der Titel des Buches muss entrüsten. Jedes Kind weiß
doch, dass Schlager lügen und uns eine heile Welt vorgaukeln.
Auf spannende Weise, belegt mit reichlich Fakten, bleibt Andrè
Port le roi über 224 Seiten in dem bei Klartext veröffentlichten
Werk Schlager lügen nicht bei seiner Behauptung.
Und er schafft es, den Leser von seinen Irrungen zu befreien.
Schon das Cover müsste ihn stutzig machen: Die Pose des Guildo
Horn, kampfesmutig beide Hände zur Faust geballt, erinnert
an das Größengebaren manches sich populistisch gebenden
Politikers. Noch haben die nicht den Mut, frosch-grün wie unser
aller Guildo um die Gunst zu buhlen. Aber Gerhard Schröder
hat der Öffentlichkeit schon des öfteren hervorragend
bewiesen, dass Marketing-Konzepte für größere Aufmerksamkeit
sorgen als politische Inhalte. Und so scheint es logisch, dass Willi
Brandt wie ein Zwerg aus vergangener Zeit an Guildos Brust klebt.
Mit seinem bescheidenen schwarzen Anzug hätte Willi heutzutage
kaum noch Chancen, das Machtspiel zu gewinnen. Aber Gerhard hat
sich ohnehin Ex-Kanzler Schmidt zum Vorbild erwählt. Er passt
besser zum Comeback der 70er-Jahre.
Lustig Lied auf
Kaiser und Führer
Das politische Gewissen der Zeit spiegelte sich schon 1916 beim
Operettenkönig Robert Stolz. Du bist der Kaiser den ich
wähle und deine Wünsche sind Befehle. Gehorchen wird dir
meine Seele, die ich so ganz dir anvertraut!, schrieb er zum
60. Krönungsjubiläum. Katzbuckeln sollte das Volk. Es
nützte nichts vier Jahre später war der Krieg verloren.
Arbeiter und Soldaten machten Revolution, wenn auch nicht erfolgreich.
Dennoch brachte sie neue Freiheiten und wirtschaftliche Krisen,
die Komponisten und Texter inspirierten.
Frivoler und zeitkritischer wurde er nun, der deutsche Schlager.
Pleite, pleite sind heut alle Leute und Wir
versaufen unser Oma ihr klein Häuschen wurden zu Hymnen
der Inflationszeit.
Angesichts der Plattheit heutiger Texte ist es kaum zu glauben,
mit wie viel Humor der Schlager sich über heftige Krisenzeiten
politische Unruhen, Rheinlandbesetzung, Inflation
rettete. Wie sich doch die Zeiten ändern, ewig schwenkt
es hin und her dreh und wend ich mich auch noch so sehr
ich hab die Taschen leer schrieben 1924 Hans Pflanzer und
Victor Corzilius. Früher hätt man sich darob
wohl sehr geniert, heute wird damit auch noch renommiert, sitz ich
in Dallas, pfeif ich auf alles!
Die Deutschen vergnügten sich trotz Hyperinflation prächtig,
was dem Schlager Auftrieb zu einmaliger musikalischer und textlicher
Qualität verschaffte. Kein Wunder, dass mangels neuer Songs
Couplets von Claire Waldorf, Fredy Sieg und Wilhelm Bendow im krisengeschüttelten
Berlin der 90er-Jahre ihre zweite Blüte feiern. Das gibts
nur einmal, das kommt nicht wieder... Das kann das Leben nur einmal
geben, denn jeder Frühling hat nur einen Mai!
Der Anfang der 30er-Jahre diente als beschwingter Abgesang auf
jene Weimarer Zeit. Viele Juden, die den deutschen Schlager und
seinen Vorgänger, die Operette, maßgeblich geprägt
hatten, wanderten in die USA aus. Wenn uns Hitler erspart geblieben
wäre, vielleicht hätte der Rockn Roll von Deutschland
aus die Welt erobert.
Mit den Nazis und ihrer Extremisierung der Gesellschaft verschwand
der Humor aus dem deutschen Schlager, der inzwischen auch im Tonfilm
ein Medium zur Verbreitung gefunden hatte. Dafür wurde er romantischer,
schnulziger und sentimentaler. Die vom Publikum geliebten Stars
wie Heinz Rühmann, Hans Albers, Marika Röck, Zarah Leander,
Johannes Heesters, Ilse Werner und andere arrangierten sich mit
der Diktatur, um weiter Filme und Schlager produzieren zu können.
Marlene Dietrich gehörte zu den Ausnahmen, die sich als Nichtjuden
aus Deutschland zurückzogen.
Marschhymnen wie Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern
bereiteten emotional auf den Krieg vor. Den Zeilen Wozu ist
die Straße da, zum Marschieren, zum Marschieren durch die
ganze Welt hatte Hans Lang eine Melodie gegeben. Aus dem Wanderlied
wurde ein von wohl jeder Kompanie gesungenes Lied der deutschen
Wehrmacht.
Davon geht die Welt nicht unter, sieht man sie manchmal
auch grau. Einmal wird sie wieder bunter, einmal wird sie himmelblau.
und: Ich weiß es wird einmal wird ein Wunder geschehn
und dann werden tausend Märchen wahr als musikalische
Durchhalteparolen kochten die Hoffnungen auf den Endsieg an.
Vom Neuanfang 45
zum Recycling der 90er
Die Chance, an die 20er-Jahre anzuknüpfen, hatte der deutsche
Schlager erst wieder nach der Kapitulation 1945. Swing, Jazz und
all die von den Nazis verteufelte entartete Musik hauchten
ihm neues Leben ein. Die Briten und Amerikaner brachten sie mit
in ihre Besatzungszonen und in die Rundfunkstationen, die sie kontrollierten.
So übernahm Radio München Midnight in Munich
vom amerikanischen Soldatensender AFN.
Doch nicht lange wollten sich die Deutschen nach vorn orientieren.
Schon mit der folgenden Italienwelle Italien
war Deutschlands Verbündeter im Zweiten Weltkrieg und zu jener
Zeit gern in Schlagern wie O mia bella Napoli (38),
Frühling in Sorrent (40) oder Chiantilied
(42) besungen worden sehnten sie sich wieder wehmütig
nach alten Zeiten.
Nach dem Sturz Mussolinis 1943 waren Italien-Schlager zwar tabu
doch die schon während des Krieges komponierten Caprifischer
feierten dennoch ihren Erfolg als erster Hit der Nachkriegszeit.
Bella, bella, bella Marie, bleib mir treu, ich komm zurück
morgen früh... Florentinische Nächte,
Im Hafen von Adano folgten. Und mit ihnen die wieder
auftauchenden Sehnsüchte nach der Heimat, Abschiedsschmerzen
und Hoffnungen, dass einer käme, sie für immer
zu erlösen.
Verheiratete Frauen warteten auf die Wiederkehr ihrer Ehemänner,
die sich in Zeilen widerspiegelten wie Bei mir zu Haus, da
blüht für dich ein schöner Garten. Bei mir zu Haus,
da scheint die Sonne für uns zwei. Und falls er doch
nicht käme, trösteten Worte wie Es wird ja alles
wieder gut; nur ein klein bisschen Mut, lässt das Glück
dich auch mal allein! Die Deutschen hatten eben wie einst
in allen Lebenslagen zu bestehen wie Der Theodor im Fußballtor
(1948): wie der Ball auch kommt, wie der Schuss auch fällt,
der Theodor, der Held, der hält.
Als die Arbeitslosigkeit zwei Jahre später in die Höhe
schnellte, sang dann Jupp Schmitz Wer soll das bezahlen, wer
hat das bestellt?. Doch das Wirtschaftswunder ließ nicht
lange auf sich warten und Friedel Hensch sang Kinder
ist das Leben schön.
Aus Hits wie Das alte Forsthaus oder Försterliesel
dagegen tropfte zu Beginn der 50er-Jahre die Sehnsucht nach der
verloren gegangenen Heimat im Osten. Freddy Quinn sang gar von Heimweh.
Der Mann mit dem bewegten Schicksal, der nach der Trennung der Eltern
in die USA mit dem Vater auswanderte, als Schiffsjunge zur See fuhr
und tatsächlich Heimweh hatte, wurde zum authentischen Idol.
Junge, komm bald wieder schluchzte er.
Seemannslieder, die immerzu Abschied feierten, bestimmten die
Trends der 50er-Jahre maßgeblich. Aber auch im Westernschlager,
untermalt mit der zitternden Stimme der Hawaiigitarre, kreierten
die Deutschen in Schlagern wie Es hängt eine Pferdehalfter
an der Wand ihre Sehnsüchte nach der ach so romantischen
Prärie und dem Cowboyleben. Oder wars ein Bekenntnis
zur Besatzermacht USA, um sich vom anderen Deutschland auch im Schlager
abzukapseln? Es scheint, als habe die Mehrheit der Deutschen nie
um den Verlust getrauert. Hätte sich sonst die Volksmusik zum
größten deutschen musikalischen Massenphänomen entwickeln
können?
Absage an die
heile Welt der Eltern
Zum Glück gab es immer wieder gegenläufige Tendenzen:
Der Erfolg von Bill Haleys Rock around the clock war
vielleicht so etwas wie ein Versuch der Jüngeren, aus der heilen
Welt der Eltern auszubrechen. Egal, ob dabei einige Möbel zu
Bruch gingen wie beim Auftritt des Amerikaners 1958. Die ewigen
Rivalen Peter Kraus und Ted Herold verkörperten in Deutschland
den Typ der Halbstarken mit Tolle, Lederjacke und englischem
Rockn Roll ein eher braver Ersatz für den rebellierenden
Elvis.
Lebendiger wurde es im deutschen Schlager mit dem politischen
Generationswechsel 1963 und den darauf folgenden Unruhen. Die Konservativen
freilich schmiedeten ein Komplott gegen Gammler und Vietnam-Kriegsgegner.
Der gute Freddy als deutscher Saubermann sang Wer will nicht
mit Gammlern verwechselt werden? Wir! Wer sorgt sich um den
Frieden auf Erden Wir! um dann mit Hundert
Mann und ein Befehl ins fremde Land einzurücken, denn:
Wir kämpften in unserer Kolonie für Freiheit und
Demokratie. Mit süßlicher Stimme widersetzte sich
Roy Black den Beatles und den Stones und damit auch stückweise
den Idealen der 68er eben Ganz in Weiß,
weil Du bist nicht allein. Nicht zu vergessen die sentimentale
Welt des Kinderstar Heintje, der Mama tröstete.
Spätestens mit der Ära Brandt mischten sich Optimismus
und der Wille zu neuen Visionen auch in den Schlager. Gitte parodierte
schon Mitte der 60er selbstbewusst Westernschlager in Ich
will nen Cowboy als Mann. Einer, der auch küssen
kann. Das war neu Frauen, die ihr Recht auf Sexualität,
wenn auch zaghaft versteckt, kund taten. Wenig später röhrte
Rita Pavone Wenn ich ein Junge wär.
Plötzlich fand der kleinbürgerliche, eher rechte deutsche
Schlager eine Vielzahl von Gegenspielern Juliane Werding,
Udo Jürgens, Peter Maffay und Katja Ebstein zum Beispiel. Gesellschaftlicher
Aufbruch wie Frauenbewegung, Friedens- und Ostpolitik, sexuelle
Revolution oder die jugendliche Protestbewegung spiegelten sich
in ihren Songs wider. Selbst Homosexualität blieb kein Tabuthema
mehr zumindest bei Bernd Clüver und Der kleine
Prinz.
Die Neue Deutsche Welle sorgte für Ich will Spaß
bis die Deutschen mit Kohl wieder einen konservativen Kanzler
auf den Machtsessel hievten. Maffay beschwor die Eiszeit
und Nicole Ein bisschen Frieden. Doch schnell glühte
ein neuer Stern am Horizont, der bis heute die Gemüter der
Massen in Bewegung hält: die Volksmusik.
Seelenverwandter
DDR-Schlager
Leider verliert der Autor kein Wort über den DDR-Schlager.
Wie spannend wäre es doch gewesen, Udo Jürgens und Frank
Schöbel, Juliane Werding und Gaby Rückert oder Heino und
Roland Neudert miteinander zu konfrontieren.
Der Blick in die Geschichte fördert recht interessante Parallelen
zu Tage. Die sowjetische Besatzungsmacht beauftragte das RTB-Orchester
schon kurz nach dem Ende des Krieges, am 27. Mai 1945, mit Tanzmusik
für Stimmung im Volk zu sorgen. Es spielte Boogie Woogie, Swing
und Jazz, sein Sound knüpfte an die 20er- und 30er-Jahre an.
Da Originaltitel aus den USA und anderen Ländern erst zu Beginn
der 50er-Jahre in den Handel kamen, übernahmen auch andere
Künstler amerikanische Hits entweder mit englischem
Originaltext oder mit deutschen Fassungen. So orientierte sich der
Kötzschenbroda-Express am Original von Glenn Miller
Chattanooga choo choo. Später machte Udo Lindenberg
den Sonderzug nach Pankow daraus.
Leider entmachtete Stalin seine fortschrittlichen Kulturoffiziere
und änderte mit dem ZK-Beschluss der KPdSU 1948 gegen
den Formalismus die politische Richtung. Alle englischen
Titel sowie Schlager, in denen Worte wie Tränen oder Mondschein
vorkamen, wurden verboten. Mit einem Streik der beiden Dirigenten
Kudritzki und Lehn sowie 21 Musikern und einem Pfeifkonzert endete
im Mai 1950 der Versuch, mit dem Streichen englischsprachiger Songs
das RTB-Orchester in ein sozialistisches Kollektiv umzuwandeln.
Das Orchester löste sich auf. Viele Künstler verließen
die junge DDR Kurt Henkels, Leiter des Orchesters vom Sender
Leipzig, Evelyn Künneke, der schräge Otto
Fritz Schulz-Reichel und andere Stars der Nachkriegszeit.
Der Platz war frei für die erste DDR-Schlagersängergeneration
mit Fred Frohberg, Sonja Siewert, Herbert Klein und andere. Der
Ostschlager der 50er- und 60er-Jahre schmachtete nicht weniger sehnsuchtsvoll
wie sein Bruder im Westen nach der totalen Harmonie im kleinbürgerlichen
Milieu. Während Lolita im Westen 1960 vom Seemann, deine
Heimat ist das Meer sang, beschwor Jenny Petra ein Jahr später
ostwärts der Elbe Weiße Wolken, blaues Meer und
du.