Das Nationale Kinderorchester Venezuela zu Gast in Deutschland
Vor etwa fünfzehn Jahren stieß ich während einer
Lateinamerikareise in einem kleinen venezolanischen Ort auf ein
Schild: Fundación Orquesta Sinfónica Juvenil.
Sollte es in diesem Dorf etwa ein Jugendorchester geben? Woher kommen
die Instrumente, woher die Lehrer? Und hat diese Fundación
womöglich sogar Musikschulfunktion?
Die Antwort auf all diese Fragen erhielt ich erst sehr viel später.
Denn auch in Ecuador begegnete ich Menschen, die aus einer Jugendorchesterbewegung
kamen. Und in Kolumbien entdeckte ich BATUTA eine Organisation,
die Jugendlichen in Armenvierteln durch das Erlernen eines Instruments
eine berufliche Perspektive eröffnet und durch das Orchesterspiel
soziale Verhaltensweisen erlernbar macht. Aber immer wieder wurde
auf Venezuela verwiesen, das Mutterland dieser Idee. Und immer wieder
fiel der Name von Dr. José Antonio Abreu, dem Initiator der
Bewegung.
Unvergesslich die Situation in Santa Fé, einem düsteren
Vorstadtviertel von Bogotà. Die Direktorin von BATUTA hatte
mich mit dem Auto dorthin gebracht. Als wir aussteigen, stürzt
eine Gruppe von Jugendlichen auf uns zu, und ich verabschiede mich
innerlich schon von Fotoapparat und Brieftasche. Doch sie machen
vor meiner Begleiterin halt und begrüßen sie. Und sie
fragt, wer von ihnen denn nun Geige und wer Bratsche lernen würde.
Dann führt man mich in ein kleines Gebäude mit Überäumen
und einem stahlgesicherten Magazin, das alle Instrumente für
ein Sinfonieorchester enthält ein fast surrealistisches
Szenario. Und in einem Probenraum steht in großen Buchstaben
an der Wand: Prohibido decir: no puedo (Es ist verboten
zu sagen Ich kann nicht). Dieses Motto ist wie ein Leitmotiv
für das ganze Projekt, das durch den unermüdlichen Einsatz
von José Antonio Abreu inzwischen in vielen Ländern
Lateinamerikas und auch in Asien Anhänger gefunden hat.
... unvergesslich ...
Vor zwei Jahren habe ich dann das Kinderorchester und auch zahlreiche
andere Jugendorchesterprojekte in Venezuela live erlebt. Der Eindruck
war umwerfend: Das nationale Kinderorchester steckt voller Begeisterung
und spielt mit unglaublicher Perfektion. In einem Internat für
Straßenkinder war ich bei einer Probe dabei. Geprobt wurde
das Halleluja von Händel. Ein kleiner Junge fiel
mir auf, der mit tiefem Ernst und großer Konzentration seine
Geige spielte. Es schien gerade so, als ob nicht er die Geige, sondern
sie ihn hielte. Ich erfuhr, dass es sich um ein Straßenkind
mit einer schrecklichen Lebensgeschichte handelte. Er hatte durch
die täglichen Proben einen neuen Sinn für sein Leben gefunden.
Doch nicht nur der soziale Aspekt dieses Projekts hat mich berührt,
auch sein pädagogischer Ansatz ist bewundernswert. Während
in Deutschland Kinder, die ein Streichinstrument lernen wollen,
viele Jahre lang mit Etüden, Sonatinen und Konzerten im Einzelunterricht
aufwachsen, lernen die Kinder in Venezuela ihr Instrument in der
Gruppe mit sinfonischen Werken von Tschaikowsky, Beethoven
oder Grieg. Die Ergebnisse sind erstaunlich, die Motivation ist
riesengroß. Und ist es nicht geradezu genial, die farbenprächtigsten
und populärsten Orchesterwerke der klassischen Literatur für
den Einstieg in das Instrumentalspiel zu nutzen? Aber warum
sollen venezolanische Kinder lernen, europäische Musik zu spielen?,
werde ich hier in Deutschland oft gefragt. Antwort eines Venezolaners:
Die Menschen der ganzen Welt haben diese Musik eigenmächtig
zum Weltkulturerbe erklärt, sie gehört uns genauso wie
euch. Nur kann es sein, dass wir sie mehr lieben als ihr.
Sollte das etwa wahr sein?
Ich bin glücklich, dass es gelungen ist, hier in Deutschland
offene Ohren und Arme für dieses Projekt zu finden, so dass
diese Tournee möglich geworden ist. Ich wünsche dem jungen
Orchester und seinem Altvater José Antonio Abreu hier bei
uns von Herzen Glück und alles Gute.