Die Berliner Festwochen müssen sich neu orientieren
Unter 40 Jahre alt und weiblich, so hatte Ulrich Eckhardt sich
eigentlich seinen Nachfolger vorgestellt. Davon erhoffte er sich
am ehesten die zündenden Ideen für eine Innovation der
Berliner Festwochen. Die Zeiten ändern sich, und vor allem
seit die reale Hauptstadt Berlin sich auf staatstragende Repräsentation
besinnt, sieht der Chef der Berliner Festspiele GmbH sein eigenes
28 Jahre lang mit Erfolg betriebenes Konzept ins Hintertreffen geraten,
fast schon in eine Art Artenschutzprogramm für Minderheiten.
In
der Tat unterscheiden sich die Festwochen radikal von allem anderen,
was sonst unter der Flagge Festival segelt und eher
die gewinnträchtige Festigung des weichen Standortfaktors
Kultur betreibt. Allein schon ihre Einrichtung 1951, mitten in der
Depression der Nachkriegszeit, erschien als ein Wagnis, mit dem
der Regierende Bürgermeister Ernst Reuter an den Selbstbehauptungswillen
der umzingelten Spree-Athener appellierte. Zwei Jahre
lang von den westlichen Alliierten finanziert, fungierten sie als
Instrument der Identitätsfindung nach innen, als Schaufenster
des Westens nach außen. Dafür wurde alles aufgefahren,
was gut und teuer war, die heimischen Stars Furtwängler, Fricsay
und Karajan ebenso wie die Callas oder Menuhin. Von Anfang an waren
die Festwochen auch ein Ort des Neuen: zu erleben war etwa Ernst
Krenek als Klavierspieler in Alban Bergs Kammerkonzert;
die szenische Erstaufführung von Schönbergs Moses
und Aron durch Hermann Scherchen; Messiaens Réveil
des oiseaux unter Karajan rief einen handfesten Skandal hervor.
Boris Blacher und Hans Werner Henze gehörten zu den meist aufgeführten
jungen Komponisten. Zu Gast waren George Grosz, Oskar Kokoschka,
Samuel Beckett, Igor Strawinsky, Paul Hindemith. Karl Amadeus Hartmann
wurde entdeckt; 1963, als es schon Kagel-Abende gab, sprach Adorno
über Schönberg und Wagner. Giorgio Strehler kam mit dem
Piccolo Teatro di Milano, und für Faust II, inszeniert
von Gustaf Gründgens, lieferte man sich die größte
Vorverkaufsschlacht der ganzen Festwochengeschichte.
Kalter Krieg
Im Kalten Krieg ging das nicht ohne blinde Flecken ab, doch entstanden
damit auch die lebensnotwendigen Kontakte Berliner Begegnungen.
Zunächst öffnete man sich nach Asien und Afrika. Das erste
Gesamtthema erhielten die Festwochen 1964 unter dem Intendanten
Nicolas Nabokow: Schwarz-Weiß/Afrika-Europa, die
Wechselwirkung zwischen abendländischer und außereuropäischer
Kultur beleuchtend. Daneben fand der erste Kongress für avantgardistische
Musik mit Blacher, Boulez, Krenek, Tal, Xenakis und anderen statt.
Für Ulrich Eckhardt sind beide Themen tragende Programmsäulen
geblieben. Konsequent setzte er das Konzept um, die Künste
nicht als isoliert von der Gesellschaft zu betrachten, sondern sie
als Teil von ihr als ihr Spiegel, als Mittel des Erkennens und des
Widerspruchs einzusetzen. Vor allem die Vermittlung des Neuen erhielt
viele Gesichter, von aufschlussreich zusammengestellten Programmen
über Komponistenporträts bis hin zu Kompositionsaufträgen.
Aribert Reimann, Isang Yun, Luigi Nono, György Kurtág
gerieten so umfassend ins Blickfeld. Durchaus konnte das den sterilen
Konzertrahmen sprengen: mit Blitzkonzerten auf Straßen
und Plätzen, der Klangmeile Kurfürstendamm,
flankiert von politischem Straßentheater. Die Alternativkultur
kam auch in Zusammenarbeit mit freien Gruppen, bezirklichen Kunstämtern
und der Hochschule der Künste zu Wort. Dem Intendanten war
damals die ganze Stadt ein Denkort, ein Labor, ein Experimentierfeld.
Die Mauer war ja nicht nur Widerstand und Abschnürung, sondern
hatte zugleich einen unglaublichen Aufforderungscharakter; man war
ständig damit beschäftigt, über Ursachen und Perspektiven
nachzudenken. Die Bequemlichkeit einer westdeutschen Großstadt
konnte sich damit überhaupt nicht einstellen. Der Ort
führte zur Geschichte: Sie reflektierten Themen wie Spiegel
der 20er-Jahre (1977) und von links wie rechts heftig
umstritten Preußen Versuch einer Bilanz
(1981) mit viel beachteten Ausstellungs-Großprojekten. Die
Dauerausstellung Topographie des Terrors wandte sich
konsequent der Vertreibung jüdischen Lebens zu, verbunden mit
der Rehabilitierung der Verdrängten Musik, die
vielleicht in der Huldigung an Berthold Goldschmidt 1994 ihren schönsten,
produktivsten Ausdruck fand.
Doch Eckhardts wichtigste Tat war zweifellos die Ingangsetzung
eines Ost-West-Dialogs lange vor einer offiziellen Ostpolitik.
Immer wieder lud er, gegen Widerstände von beiden Seiten, Theatergruppen
aus Warschau, Bukarest und Moskau ein, ein Meilenstein dabei das
Gastspiel der Moskauer Kammeroper mit Die Nase von Schos-takowitsch.
Symbolismus, Futurismus war 1983 Ausgangspunkt zur Entdeckung
auch der stalinistisch verfemten Avantgarde und später der
Zeitgenossen. Prag oder Berlin-Moskau zeigten
1992 und 1995, dass die Festwochen keiner Wende bedurften
wenn der Dialog jetzt auch schwieriger geworden war. Deutschlandbilder
(1997) und die rettende Übernahme der DDR-Musikbiennale versuchten
sich an Bilanz und Ausblick.
Doch der ist problematisch. Wenn auch Berlin immer noch ein Magnet
für junge Leute ist, so lässt doch deren Hang zum Kunstkonsum
als Lebensdesign das unbequeme Konzept veraltet
erscheinen. Auch das Musikangebot der Stadt selbst hat es unschärfer
werden lassen, vieles wurde in Nachtstudios abgeschoben.
Die Übernahme der Finanzen durch den Bund verschafft zwar Sicherheit,
doch sind auch Einflüsse hin zu mehr Internationalität
und Events zu befürchten. Dabei spricht Eckhardts
Nachfolger Joachim Sartorius nicht gerade einen Generationswechsel
verkörpernd bisher von Kontinuität, doch mit Neuauflagen
ist es auch nicht getan. Die nächsten zwei Jahre tragen mit
dem Projekt Geist und Seele der Stadt noch Eckhardts
Handschrift, doch danach ist kaum zu erwarten, dass die Festwochen
noch etwas von der Utopien fördernden Qualität des alten
Westberlin bewahren, das eingreifende Denken mittels
Kunst so entschieden wie bisher befördern werden.