Venedig. Als ich den großen Saal der Berliner Philharmonie
betrat, war ich angekommen. Zum Abschluss des Festivals Inventionen
2000 gab es nach einer Station in Bochum, vor Frankfurt/M.,
Paris, Wien, Mailand Luigi Nonos Prometeo, die
tragedia dellascolto, eine Produktion des Ensemble
Modern Orchestra mit vielen Verbündeten, unterstützt von
Sponsoren erster Couleur. Prometeo ist ein venezianisches
Werk, die Stadt des Venezianers Nono lebt darin. In Venedig gibt
es, sagte Nono, eine ganz besondere Art, Musik zu spielen, zu sprechen,
zu hören auch zum Beispiel die Glocken.
Venedig ist das große Ereignis der Asymmetrie ... Es
ist ein dauerndes Labyrinth ..., noch heute wandert man den Weg,
mit Augen, mit Füßen und mit Ohren. Prometeo
ist ein Wandern ohne Ziel, aber es führt ins atmende Klarsein.
Das atmende Klarsein für Bassflöte und kleinen
Chor mit Live-Elektronik sollte ursprünglich Prometeo
beschließen; in der Generalprobe noch gegeben wurde es zur
Uraufführung gestrichen und fragmentiert in die endgültige
Mailänder Version eingefügt. Prometeo als
Ganzes ist jetzt ein Klarsein.
Das Wandern, Exodus, auch Exil, ist ein wesentliches Element jüdischen
Selbstverständnisses. (Hinweise darauf verdanke ich neben Anderem
der hochinformativen Dissertation von Lydia Jeschke: Prometeo.
Geschichtskonzeptionen in Luigi Nonos Hörtragödie,
Stuttgart 1997) Nono hat sich bei den Vorarbeiten zu Prometeo
in die jüdischen Traditionen seiner Heimatstadt versenkt; eine
Annäherung das ist meine Deutung an seinen Schwiegervater
Arnold Schönberg. Die jetzt abschließende Textzeile von
Massimo Cacciari Und ist in der Wüste unbesiegbar
ist gewiss nicht zufällig fast identisch mit dem komponierten
Schluss des Moses-und-Aron-Fragments von Schönberg.
Das Ende von Prometeo ist wie der Anfang, eine Quinte.
Nomos, von Menschen gesetztes Recht, ist in Bewegung, wie die Thora,
das Gesetz, immer in Bewegung ist. Nomos, in anderer Lesart, altgriechisch,
ist auch ein musikalisches Gesetz. Die Gesetzesrollen der Thora
werden in einem Schrein aufbewahrt. Die Tragestangen zum Transport
dieses Schreins dürfen niemals entfernt werden, denn das Gesetz
ist immer mobil, nicht an einen Punkt im Raum oder in der
Zeit gebunden..., eine fortgesetzte, ständige, unausgesetzte
Reise (Marc-Alain Ouaknin, zitiert nach Lydia Jeschke).
Mit dieser fortgesetzten Bewegung korrespondiert die venezianische
Schule der Mehrchörigkeit, vor allem in San Marco; aber auch
in San Lorenzo, dem nicht mehr als Kirche genutzten Uraufführungsort,
erbaut 1602, wurde mehrchörig musiziert was Nono zur
Zeit der Komposition noch nicht wusste. Die Mehrchörigkeit
von Adrian Willaert und der beiden Gabrielis, Andrea und seines
Neffen Giovanni, war für Nono gleichsam existenziell; Jürg
Stenzl nennt den letzten Teil, Stasimo secondo, eine
Reflexion über die Renaissancepolyphonie Venedigs im 16. Jahrhundert.
San Marco hatte sich Nono für die Uraufführung seiner
Klangskulptur gewünscht, aber das war nicht zu
realisieren. Jetzt stehe ich vor San Lorenzo.
Die seit dem 19. Jahrhundert säkularisierte Kirche war nie
ganz fertig geworden. Die Eingangstür ist während der
Aufführungen offen geblieben; Alltagsgeräusche drangen
herein. Am Uraufführungstag gaben zu Beginn des Prologo
die Sirenen Hochwasseralarm. Eine Bretterwand behindert jetzt den
Blick. Die Zukunft der Kirche erscheint ungewiss. Restaurierungsarbeiten
gibt es seit zehn Jahren. Eine Ausschreibung der Stadt Venedig spricht
von der Renovierung und Instandsetzung für ein Alterswohnheim,
Ospedale S. Lorenzo a castello. Ich war abermals in Venedig angekommen.
Operntod
Verona. Was haben die Tauben auf der Piazza S. Marco und die Opernproduktionen
in der Arena di Verona gemeinsam? Sie werden von Touristen geliebt
und sind überflüssig. Die Süddeutsche Zeitung titelte
Schüsselerlebnis Arena und Veronas Zauber,
lobte vor allem La Traviata; das Programmbuch raunt
poetisch vom magischen Oval. Magie setzt den ontologischen
Zeitbegriff außer Kraft, gleichwohl ist das in eindreiviertel
Stunden kompositorisch Gesagte unangemessen konzis. Ich sitze ratlos
inmitten eines Phänomens. Das Phänomen ist das Publikum.
Es lässt sich mit wohligem Behagen hineinfallen in die latent,
aus dem Unbewussten erfahrbaren Dehnungen dieses Abends. Es setzt
mit lautstarken Bravos für Unbravouröses gegenläufige
Zäsuren.
Nicht, dass geschmiert würde. Am Pult steht ein
offensichtlich erfahrener, sängerfreundlicher Kapellmeister
mit behäbiger, aber nicht unschlüssiger Temponahme. Er
kennt seinen Verdi. Musiziert wird, soweit in den hinteren Parkettreihen
bei ungünstigen Windverhältnissen hörbar, bemerkenswert
sauber. Der Regisseur tat sein Arena-Bestes. Die Bleilast der Undramatik
wird durch zwei Pausen von je 20 Minuten nicht gestört. Die
Stimme der Violetta mit Höhenproblemen spricht im piano merklich
präzise an, wie durch Watte vernehmbar, wenn man nicht ganz
vorn sitzt. Der Maskenball bei Flora ist ein szenisches Crescendo:
Hier tanzen Matadore, Picadore und Zigeunerinnen brav
ihren Reigen, ein gar liebliches Divertissement. 1947 und 48, 1952
bis 54 sang die Callas in Verona ... Heute: ein Operntod. Vorher
umarmen Alfredo und Violetta die aus dem Sterbebett aufragende Statue,
Liebkosung verblichener Kunst. Die Begeisterten feiern das zuvor
Erwartete, also sich selbst bewundernswert.
Außenseiter
Marseille. Französisches Musiktheater außerhalb von
Paris? Ja sicher: Lyon. Warum nicht Marseille? Mit der dortigen
Oper verbindet mich klangvolle Erinnerung an eine mehr als respektable
Frau-ohne-Schatten-Aufführung zu Beginn der Spielzeit
1995/96 (Tagebuch Nr. 6/95). Seitdem verfolge ich die Spielpläne.
Die Saison 2000/2001 leuchtet aus einem in südlich kräftige
Farben (Richard Campana) getauchten Vorschauheft. Es verführt
zu der riskanten Nennung ungewöhnlich fantasievoller Vorhaben,
ohne das schaubare Ergebnis abzuwarten.
Zentrales Projekt ist Bérénice von Albéric
Magnard, die dritte und letzte Oper des auch in Frankreich vergessenen,
einst gerühmten Komponisten, uraufgeführt am 15. Dezember
1911 in Paris (Opéra-Comique) und seitdem nicht wieder gegeben.
Für Bérénice setzt sich der belgische
Musikwissenschaftler Harry Halbreich ein, seinerzeit leitender Kopf
des unvergessenen Avantgarde-Festivals von Royan, später mehr
der Tradition zugewandt. Magnard auf schreckliche Weise umgekommen
zu Beginn des Ersten Weltkriegs, als er seinen Landsitz in Baron
(Oise) gegen deutsche Soldaten verteidigte gilt als Wagnerianer;
in einem vielzitierten Vorwort zu Bérénice
räumt er das mit übergroßer Bescheidenheit ein.
Nach allem, was über ihn zu lesen ist, bleibt sein emotionaler
und formbewusster Stil dabei nicht stehen. Die Vorlage stellte Jean
Racine, ein französisches Nationalheiligtum; die 514. französische
Bérénice-Aufführung im Juli 1985
an der Comédie-Française Inszenierung: Klaus
Michael Grüber haftet im Gedächtnis.
Aus Marseille stammt Henri Tomasi, an dessen LAtlantide
ursprünglich Opéra-ballet genannt zu Saisonbeginn
erinnert wurde. Nachfolger Faurés als Direktor des Pariser
Conservatoire war Henri Rabaud; seine in Paris lange heimische Opéra-Comique
Mârouf, savetier (Flickschuster) du Caire nach
einem poetischen Märchen aus Tausendundeiner Nacht
wurde aber auch in Zürich, Dessau, Wien und Mailand gespielt.
Dem Verdi-Jahr geschuldet sind neben Aida
I Lombardi, Rarität hier zu Lande.