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Ausgabe 2000/10
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nmz 2000/10 | Seite 12
49. Jahrgang | Oktober

Kulturpolitik

 

Tagebuch

von Claus-Henning Bachmann

 

 

Klarsein

 

Venedig. Als ich den großen Saal der Berliner Philharmonie betrat, war ich angekommen. Zum Abschluss des Festivals „Inventionen 2000“ gab es – nach einer Station in Bochum, vor Frankfurt/M., Paris, Wien, Mailand – Luigi Nonos „Prometeo“, die „tragedia dell’ascolto“, eine Produktion des Ensemble Modern Orchestra mit vielen Verbündeten, unterstützt von Sponsoren erster Couleur. „Prometeo“ ist ein venezianisches Werk, die Stadt des Venezianers Nono lebt darin. In Venedig gibt es, sagte Nono, eine ganz besondere Art, Musik zu spielen, zu sprechen, zu hören – „auch zum Beispiel die Glocken“. „Venedig ist das große Ereignis der Asymmetrie ... Es ist ein dauerndes Labyrinth ..., noch heute wandert man den Weg, mit Augen, mit Füßen – und mit Ohren.“ „Prometeo“ ist ein Wandern ohne Ziel, aber es führt ins atmende Klarsein. „Das atmende Klarsein“ für Bassflöte und kleinen Chor mit Live-Elektronik sollte ursprünglich „Prometeo“ beschließen; in der Generalprobe noch gegeben wurde es zur Uraufführung gestrichen und fragmentiert in die endgültige Mailänder Version eingefügt. „Prometeo“ als Ganzes ist jetzt ein Klarsein.

Das Wandern, Exodus, auch Exil, ist ein wesentliches Element jüdischen Selbstverständnisses. (Hinweise darauf verdanke ich neben Anderem der hochinformativen Dissertation von Lydia Jeschke: „Prometeo. Geschichtskonzeptionen in Luigi Nonos Hörtragödie“, Stuttgart 1997) Nono hat sich bei den Vorarbeiten zu „Prometeo“ in die jüdischen Traditionen seiner Heimatstadt versenkt; eine Annäherung – das ist meine Deutung – an seinen Schwiegervater Arnold Schönberg. Die jetzt abschließende Textzeile von Massimo Cacciari „Und ist in der Wüste unbesiegbar“ ist gewiss nicht zufällig fast identisch mit dem komponierten Schluss des „Moses-und-Aron“-Fragments von Schönberg. Das Ende von „Prometeo“ ist wie der Anfang, eine Quinte. Nomos, von Menschen gesetztes Recht, ist in Bewegung, wie die Thora, das Gesetz, immer in Bewegung ist. Nomos, in anderer Lesart, altgriechisch, ist auch ein musikalisches Gesetz. Die Gesetzesrollen der Thora werden in einem Schrein aufbewahrt. Die Tragestangen zum Transport dieses Schreins dürfen niemals entfernt werden, denn das Gesetz „ist immer mobil, nicht an einen Punkt im Raum oder in der Zeit gebunden..., eine fortgesetzte, ständige, unausgesetzte Reise“ (Marc-Alain Ouaknin, zitiert nach Lydia Jeschke).

Mit dieser fortgesetzten Bewegung korrespondiert die venezianische Schule der Mehrchörigkeit, vor allem in San Marco; aber auch in San Lorenzo, dem nicht mehr als Kirche genutzten Uraufführungsort, erbaut 1602, wurde mehrchörig musiziert – was Nono zur Zeit der Komposition noch nicht wusste. Die Mehrchörigkeit von Adrian Willaert und der beiden Gabrielis, Andrea und seines Neffen Giovanni, war für Nono gleichsam existenziell; Jürg Stenzl nennt den letzten Teil, „Stasimo secondo“, „eine Reflexion über die Renaissancepolyphonie Venedigs im 16. Jahrhundert“. San Marco hatte sich Nono für die Uraufführung seiner „Klangskulptur“ gewünscht, aber das war nicht zu realisieren. Jetzt stehe ich vor San Lorenzo.

Die seit dem 19. Jahrhundert säkularisierte Kirche war nie ganz fertig geworden. Die Eingangstür ist während der Aufführungen offen geblieben; Alltagsgeräusche drangen herein. Am Uraufführungstag gaben zu Beginn des „Prologo“ die Sirenen Hochwasseralarm. Eine Bretterwand behindert jetzt den Blick. Die Zukunft der Kirche erscheint ungewiss. Restaurierungsarbeiten gibt es seit zehn Jahren. Eine Ausschreibung der Stadt Venedig spricht von der Renovierung und Instandsetzung für ein Alterswohnheim, Ospedale S. Lorenzo a castello. Ich war abermals in Venedig angekommen.

 

 

Operntod

 

Verona. Was haben die Tauben auf der Piazza S. Marco und die Opernproduktionen in der Arena di Verona gemeinsam? Sie werden von Touristen geliebt und sind überflüssig. Die Süddeutsche Zeitung titelte „Schüsselerlebnis Arena“ und „Veronas Zauber“, lobte vor allem „La Traviata“; das Programmbuch raunt poetisch vom „magischen Oval“. Magie setzt den ontologischen Zeitbegriff außer Kraft, gleichwohl ist das in eindreiviertel Stunden kompositorisch Gesagte unangemessen konzis. Ich sitze ratlos inmitten eines Phänomens. Das Phänomen ist das Publikum. Es lässt sich mit wohligem Behagen hineinfallen in die latent, aus dem Unbewussten erfahrbaren Dehnungen dieses Abends. Es setzt mit lautstarken Bravos für Unbravouröses gegenläufige Zäsuren.

Nicht, dass „geschmiert“ würde. Am Pult steht ein offensichtlich erfahrener, sängerfreundlicher Kapellmeister mit behäbiger, aber nicht unschlüssiger Temponahme. Er kennt seinen Verdi. Musiziert wird, soweit in den hinteren Parkettreihen bei ungünstigen Windverhältnissen hörbar, bemerkenswert sauber. Der Regisseur tat sein Arena-Bestes. Die Bleilast der Undramatik wird durch zwei Pausen von je 20 Minuten nicht gestört. Die Stimme der Violetta mit Höhenproblemen spricht im piano merklich präzise an, wie durch Watte vernehmbar, wenn man nicht ganz vorn sitzt. Der Maskenball bei Flora ist ein szenisches Crescendo: Hier tanzen „Matadore, Picadore und Zigeunerinnen“ brav ihren Reigen, ein gar liebliches Divertissement. 1947 und 48, 1952 bis 54 sang die Callas in Verona ... Heute: ein Operntod. Vorher umarmen Alfredo und Violetta die aus dem Sterbebett aufragende Statue, Liebkosung verblichener Kunst. Die Begeisterten feiern das zuvor Erwartete, also sich selbst – bewundernswert.

 

 

Außenseiter

 

Marseille. Französisches Musiktheater außerhalb von Paris? Ja sicher: Lyon. Warum nicht Marseille? Mit der dortigen Oper verbindet mich klangvolle Erinnerung an eine mehr als respektable „Frau-ohne-Schatten“-Aufführung zu Beginn der Spielzeit 1995/96 (Tagebuch Nr. 6/95). Seitdem verfolge ich die Spielpläne. Die Saison 2000/2001 leuchtet aus einem in südlich kräftige Farben (Richard Campana) getauchten Vorschauheft. Es verführt zu der riskanten Nennung ungewöhnlich fantasievoller Vorhaben, ohne das schaubare Ergebnis abzuwarten.

Zentrales Projekt ist „Bérénice“ von Albéric Magnard, die dritte und letzte Oper des auch in Frankreich vergessenen, einst gerühmten Komponisten, uraufgeführt am 15. Dezember 1911 in Paris (Opéra-Comique) und seitdem nicht wieder gegeben. Für „Bérénice“ setzt sich der belgische Musikwissenschaftler Harry Halbreich ein, seinerzeit leitender Kopf des unvergessenen Avantgarde-Festivals von Royan, später mehr der Tradition zugewandt. Magnard – auf schreckliche Weise umgekommen zu Beginn des Ersten Weltkriegs, als er seinen Landsitz in Baron (Oise) gegen deutsche Soldaten verteidigte – gilt als Wagnerianer; in einem vielzitierten Vorwort zu „Bérénice“ räumt er das mit übergroßer Bescheidenheit ein. Nach allem, was über ihn zu lesen ist, bleibt sein emotionaler und formbewusster Stil dabei nicht stehen. Die Vorlage stellte Jean Racine, ein französisches Nationalheiligtum; die 514. französische „Bérénice“-Aufführung im Juli 1985 an der Comédie-Française – Inszenierung: Klaus Michael Grüber – haftet im Gedächtnis.

Aus Marseille stammt Henri Tomasi, an dessen „L’Atlantide“ – ursprünglich Opéra-ballet genannt – zu Saisonbeginn erinnert wurde. Nachfolger Faurés als Direktor des Pariser Conservatoire war Henri Rabaud; seine in Paris lange heimische Opéra-Comique „Mârouf, savetier (Flickschuster) du Caire“ nach einem poetischen Märchen aus „Tausendundeiner Nacht“ wurde aber auch in Zürich, Dessau, Wien und Mailand gespielt. Dem Verdi-Jahr geschuldet sind – neben „Aida“ – „I Lombardi“, Rarität hier zu Lande.

Claus-Henning Bachmann

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