Pearl Jams Binaural: Die Grunge-Helden experimentieren
mit der Vergangenheit
Kurt Cobain wollte eines auf keinen Fall sein: der Führer
der orientierungslosen Generation X, der Einäugige
unter Blinden. Als sich dem Sex-Appeal seines Teen Spirit
selbst durch brachialen Avantgardismus und konsequenten Entzug nicht
Einhalt gebieten ließ, quittierte er seinen Erfolg bei den
Teenies dieser Welt mit der Schrotflinte. So wurde er zum unsterblichen
Idol im Nirvana der Neverending-Pop-Ikonen.
Eddie
Vedder, der nie so viel Sex hatte und dem bei allem Weltschmerz
die nötige suizidäre Radikalität fehlte, hat dagegen
das Problem des Überlebenden: Wie soll man, kommerziell und
künstlerisch erfolgreich oder zumindest halbwegs anständig,
weitermachen, wenn das, wofür man stand, passé und perdu
ist. Für die Kids des neuen Jahrtausends wird Seattle bald
der Sound von Mom und Dad sein. Nichts ist peinlicher als der Rockismus
älterer Herrschaften.
Eddie Vedder und Co. scheinen das zu ahnen. Ihren Ausweg aus der
Sackgasse haben sie den Genres abgeschaut, die up to date sind:
Warum soll man nur in Hip- und TripHop, in House oder Techno sampeln,
sprich: aus dem Recycling des Uralten aufregend Neues herstellen
können. Ein Musiker-Leben nach Grunge ist möglich, wenn
man entschieden hinter die eigenen Anfänge zurückgeht:
statt den teen spirit von einst an immer öderen
Rock zu verraten, suchen Pearl Jam nach Resten der Revolte, wo immer
sie zu finden sind. So kann man anno 2000 ein experimentierfreudiges
Album machen, das sich auf Pink Floyd und die Doors bezieht, aber
weder auf der backside of the moon noch im psychedelischen
Reich des permanenten Exzesses verschwindet. Binaural
(bei Epic/Sony) ist rau und, vor allem was drum&bass betrifft,
auf vertrackte Weise repetitiv, scheut vor Sound-Collagen-artigen
Gimmicks nicht zurück und verdankt sich insgesamt weniger einem
Authentizismus spontanen Selbstausdrucks als der überlegten
Montage durchaus heterogener Elemente.
Pearl Jam: Binaural, Epic/Sony.
Auf Binaural ist Pearl Jam eher eine komponierende
als eine spielende Band: jede Bestandsaufnahme setzt Reflexion voraus,
der Meta-Text muss das Material, das er verarbeitet, verdichten.
So gibt es auf dem neuesten Pearl-Jam-Album, fast zehn Jahre nach
dem 91er-Klassiker Ten, Grunge-Songs, die das Verschwinden
von Grunge voraussetzen. Oder präziser: nicht das Verschwinden,
sondern das Historisch-Werden eines Genres, das jetzt nicht mehr
als einzig mögliches, gewissermaßen als kulturrevolutionäres
und lebensreformatorisches Projekt, sondern als eine von vielen
Möglichkeiten erscheint: aus dem Ernst des Anfangs wird das
souveräne Spiel einer Spät-Zeit. Ähnliches passiert
mit der Melancholie, die Eddie Vedders Songwriting immer schon charakterisierte.
Sie löst sich nicht auf, wie es der PR-Text will (der sie offenbar
für kaufmännisch nicht mehr nutzbar hält), sondern
wechselt Ort und Status: war sie für die ganz jungen Männer,
die, ohne Vergleich, dem Absolutismus der Gegenwart ausgeliefert
waren und ihre spezifische Situation für eine naturnotwendige
hielten, unausweichlich, so erscheint sie jetzt als politisch und
sozial verursacht und damit zumindest im Prinzip als veränderbar.
Eddie Vedder, der seinem Publikum auf der Bühne immer noch
gern den Rücken zukehrt, spricht jetzt zumindest in den Songs
mit ihm. Unschuld ist keine Tugend mehr, sondern etwas, das gebrochen
werden muss. Der Single-Hit heißt, beinahe programmatisch,
Nothing as it Seems: eine düster-suggestive Ballade,
auf der Eddie Vedder eine Art Bestandsaufnahme betreibt; eine Inventur
nicht nur seines, sondern aller Leben.