Der Komponist Stefan Heucke verknüpft romantisches Raffinement
und modernes Denken
Wollte man die Musik des Komponisten Stefan Heucke mit poetischen
Worten beschreiben, sollte man die Czernowitzer Lyrikerin Rose Ausländer
sprechen lassen: Es heißt/zwischen den Zeilen/das Unsagbare/sagen.
Stefan Heuckes Musik will sprechen, will erzählen. Sie scheut
weder sangbare Melodien noch durchgängige Rhythmen. Mit tonalen
Momenten versucht Heucke eine Brücke zu den Zuhörern zu
bauen, damit sie dem, was seine Musik sagen will, lauschen mögen.
Dem Gedicht Lauschen sind diese Verse von Rose Ausländer
entnommen, und es ist wohl kein Zufall, dass es zu Beginn des Zyklus
Einverständnis op. 21 für Sopran, Altsaxophon,
Viola und Vibra- und Marimbaphon (1994) von Stefan Heucke steht.
Stefan Heucke
Der
musikalische Weg, den Heuke eingeschlagen hat, führt ihn zwar
nicht auf die Bühnen exponierter Festivals für Neue Musik,
dafür aber stehen seine Kompositionen auf den Spielplänen
renommierter Orchester. Sicherlich, der in Bochum lebende Komponist
ist nicht der Einzige gewesen, der sich in den achtziger Jahren
von der in Deutschland weit verbreiteten Serialismus-Nachfolge abwandte.
Ebenso wollte Heucke keinen provokativen Kontrapunkt gegenüber
einer damals sicherlich als dogmatisch zu bezeichnenden musikalischen
Avantgarde setzen. Sein individueller Weg war es, eine musikalische
Sprache zu entwickeln, deren thematisches Zentrum immer wieder von
den großen Menschheitsfragen nach Gott, Leben, Tod, Schuld
und Liebe gebildet wird. Das uvre Heuckes weist eine starke
Bindung an literarische Vorlagen auf, die ebensolchen Sinnfragen
nachspüren. Sonne Sterne und Traum/erzählen/was
vor deiner Geburt geschah/was nach deinem Tod sich ereignen wird,
heißt es weiter in Lauschen von Rose Ausländer.
Schon das uralte Gilgamesh-Epos, eines der frühesten literarischen
Zeugnisse der Menschheit, greift genau diese Fragen nach Leben und
Tod auf. Dieser archaische Mythos inspirierte Heucke zur Komposition
des großen Tanzoratoriums Die Ordnung der Erde
op. 30 für Tänzer, Solostimmen und Orchester. Es handelt
vom Werden des Menschen, von der Bewusstwerdung des Ich über
die Gemeinschaft mit anderen bis hin zur Todeserfahrung und dem
Wunsch nach Unsterblichkeit. Die Uraufführung des abendfüllenden
Werks wird am 27. Januar 2001 am Musiktheater Gelsenkirchen zu erleben
sein. Für die Inszenierung zeichnet der Chef des hauseigenen
Balletts Bernd Schindowski verantwortlich. Dabei legt Schindowski
Wert auf eine enge Zusammenarbeit mit dem Komponisten. Heucke beteiligte
sich an der Produktion der Probenbänder mit dem Orchester und
ging in den Sommermonaten gemeinsam mit dem Choreografen in Klausur.
Die Wahl einer tänzerischen Ausdrucksform korrespondiert für
Heucke mit dem archaischen Ursprung der literarischen Vorlage. Der
musikalische Gestus sei durchaus rhythmisch und akzentreich, trotzdem
stehe das erzählerische Element im Vordergrund. Die Instrumentalteile
sind orchestral und leitmotivisch nach sinfonischem Vorbild gearbeitet.
Heucke stellt sich bewusst in die Tradition der klassischen Moderne.
Seine Leitsterne am Komponistenhimmel heißen Bach, Schubert,
Mahler und Schostakowitsch. Das mag man in seiner Affinität
zu theologischen Deutungen, der häufig lyrischen Gedankenformung,
einer engen Synthese von Text und Musik oder in einem teils sehr
opulenten Instrumentalstil wieder entdecken.
Stefan Heucke wurde 1959 in Gaildorf/Baden-Württemberg als
Sohn einer Beamtenfamilie geboren. Als Siebenjähriger erhielt
er zunächst Unterricht auf der Blockflöte und der Violine.
Erst 1973 begann er mit dem Klavierstudium, das er ab 1978 bei Renate
Werner in Stuttgart fortsetzte. Aus dieser Zeit stammen die ersten
beiden Werke, die Heucke in sein Werkverzeichnis aufnahm: Drei Lieder
für Tenor und Streichquintett nach Gedichten von Georg Trakl
op. 1 (1980) und Chor der Geretteten für Soli,
Chor, Bläser und Schlagzeug nach einem Gedicht von Nelly Sachs
op. 2 (1981). Es folgte ein Musikstudium an der Hochschule für
Musik Detmold/Abteilung Dortmund. Erste öffentliche Aufmerksamkeit
erregte die Aufführung seiner Vier Orchesterstücke
op. 5 im Rahmen des Forums junger deutscher Komponisten für
Orchestermusik durch das Saarländische Staatsorchester
unter Matthias Kuntzsch im Jahr 1995. Seitdem folgten zahlreiche
Produktionen durch verschiedene Rundfunkanstalten. Im Auftrag der
Evangelischen Kirche von Westfalen komponierte Heucke 1990 seine
1. Symphonie op. 12 für Soli, Chor und Orchester, die 1991
beim ev. Kirchentag im Ruhrgebiet gleich fünf Mal aufgeführt
wurde. Ebenfalls 1990 erhielt er den Förderpreis der Stadt
Dortmund für junge Künstler. Es folgten mehrere Reisen
nach Russland mit Aufführungen in Moskau und Rostow. Unter
dem Eindruck der Begegnung mit dem russischen Bajan-Spieler Vjatcheslav
Semionov entstand das Quartett op. 16 für Bajan, Violine, Viola
und Violoncello. 1996 erhielt Heucke ein dreijähriges Stipendium
der Werner-Richard-Dr.-Karl-Dörken-Stiftung, das ihm erlaubte
das Tanzoratorium Die Ordnung der Erde op. 30 in finanzieller
Unabhängigkeit zu komponieren. Seit 1989 ist er als Dozent
für Musiktheorie an der Musikhochschule Dortmund tätig.
Inzwischen kann Heucke nicht nur auf ein umfangreiches Werkverzeichnis
verweisen, sondern vor allem auch auf eine ungewöhnlich große
Zahl an Aufführungen. Selten bleibt es bei der Uraufführung,
seine Musik wird gespielt. Zur Jahrtausendwende hatten gleich zwei
Orchester, Bochum und Dortmund, Kompositionen für ihre Silvesterkonzerte
in Auftrag gegeben. Das Privileg finanzieller Absicherung durch
die zahlreichen Aufträge und die Bereitschaft der Orchester
sowie einzelner Interpreten seine Musik aufzuführen, beflügelt
offensichtlich die Fantasie und den Schaffensdrang des jungen Komponisten.
Allein fünf neue Kompositionen, allesamt Auftragswerke, sind
in Vorbereitung. Die Auseinandersetzung mit literarischen Vorlagen,
von den frühesten Zeugnissen der Menschheit über die Dichter
der Klassik und Romantik wie Friedrich Hölderlin und August
von Platen bis hin zu Autoren der Gegenwart wie Franz Kafka, Nelly
Sachs, Paul Celan oder Rose Ausländer scheint ständig
Funken zu entfachen, die nur darauf warten im Feuer eines neuen
Werks aufzugehen. Dabei ist Heucke sich sehr wohl seiner glücklichen
Lage bewusst. Im Gespräch mit dem Komponisten lernt man zugleich
den aufgeschlossenen und engagierten Menschen kennen. So schlägt
er zum Beispiel in der Deutung seines Quintetts für Violine,
Viola, Violoncello, Kontrabass und Klavier op. 25 (1995), das er
als ein melancholisches Gegenstück zu Schuberts lebenszugewandten
und heiterem Forellenquintett versteht, die Brücke
von Schubert in die Gegenwart, in dem er durch die Gegenüberstellung
unterschiedlicher Satzcharaktere auf die Spannung zwischen sehnsuchtsvollem
Zurückträumen und brutal-gewaltätiger Realität
verweist. In ebensolcher Spannung zwischen Einst und Jetzt steht
der Klavierzyklus Nacht-Urnen op. 32 (1998/2000), in
dem Heucke spätromantisches Pianistenraffinement mit strukturell-modernem
Denken verknüpft.
Nicht nur innermusikalisch stellt Heucke sich den Gegebenheiten
im Hier und Jetzt. Häufig stehen Konzerte unter dem Stern sozialen
Engagements. Als besonders schöner Erfolg ist hier eine Benefiz-CD-Produktion
des Märchens Der selbstsüchtige Riese op. 20,
für Sprecher und Orchester, mit den Bochumer Symphonikern zu
nennen. Darauf zu hören ist eine gelungene musikalische Umsetzung
des gleichnamigen Märchens von Oscar Wilde. Der Erlös
des Verkaufs geht zu Gunsten des Hospizes in Bochum-Wattenscheid.
Ich will Geschichten erzählen., so lautet das
aufrichtige Understatement des Komponisten. Denn hinter den Geschichten
verbirgt sich ein großer musikalischer Einfallsreichtum, der
auf eine ausgefeilte Beherrschung des Handwerks, besonders in der
formalen Gestaltung sowie dem Einsatz der Instrumente, trifft. Kompositionen,
auf die man hören sollte.