Herausgeber Udo Bermbach will ein Jahrhundert Operngeschichte
ausbreiten
Udo
Bermbach (Hrsg.): Oper im 20. Jahrhundert. Entwicklungstendenzen
und Komponisten, 686 S., Verlag J.B. Metzler, 98 Mark /öS 716,-/sFr
89,-
Der erste Blick weckt mehr als Neugierde. Ein ganzes Jahrhundert
Musiktheater zwischen zwei Buchdeckeln. Der Opernfreund reagiert
erwartungsvoll und wertet den vorsichtig operierenden Erkenntnisanspruch
als Indiz von Seriosität: Zu vielfältig und gegenläufig
sind die Tendenzen des Opernkomponierens, zu unterschiedlich und
facettenreich die Inszenierungen auf den Bühnen, als dass sich
eine bilanzierende Summe eindeutig ausweisen ließe,
dämpft Herausgeber Udo Bermbach im Vorwort die allzu hochfliegenden
Erwartungen.
Wenn also Bilanz und Eindeutigkeit nicht
erreichbar sind, wo liegen dann Ziel und Anziehungskraft dieses
gewichtigen Kompendiums? Erklärtermaßen sind es die wichtigsten
Entwicklungen des Operntheaters im 20. Jahrhundert, die Bermbach
mit Hilfe seines Autorenteams nachvollziehen will. Der
Schwerpunkt liegt dabei auf der Oper in Deutschland, fügt
er hinzu und trifft eine keineswegs komplikationslose Vorentscheidung,
mit der er manchen Lesern die Lektüre nicht gerade erleichtern
wird, so wie er dadurch umgekehrt auch einigen seiner Autoren das
Schreiben schwer gemacht haben dürfte. Dass die Oper im 20.
Jahrhundert als Musiktheater einem in jeder Hinsicht grenzüberspringenden,
fein gesponnenen Netz gleicht, das aus wechselnden Produktions-
und Interpretationsgemeinschaften europäisch-internationalen
Zuschnitts gewoben ist dies sind Einsichten, die aus Bermbachs
Operngeschichte an verschiedenen Stellen selbst gewonnen werden
können.
Bermbach, Lehrstuhlinhaber für Politische Wissenschaften
an der Hamburger Universität, hat zwischen 1997 und 1999 zwei
Vortragsreihen organisiert, die die Keimzelle seiner groß
angelegten Bestandsaufnahme bilden. Hier liegt zugleich die Erklärung
für die auffällige Unabgestimmtheit der Darstellungsmethoden.
Konventionell musikhistorische Ableitungen stehen neben politologisch-soziologischen
Interpretationen, feuilletonistische und werkorientiert-philosophische
Darlegungen neben der dezidiert persönlichen Bestandsaufnahme
eines handverlesenen Komponisten wie Siegfried Matthus.
Der Herausgeber teilt seine Bestandsaufnahme in zwei Abschnitte.
Der erste Teil umfasst in 14 Einzelbeiträgen eine Problemgeschichte
des Opernschaffens in Deutschland seit Wagner sowie eine Art Länderreport
zum Operngeschehen in Italien, Frankreich, Sowjet-Russland, Skandinavien
und Nordamerika. Auch wenn bereits hier nach Auswahl und Gewichtung
gefragt werden könnte die im zweiten Teil des Buches
in Einzelporträts vorgestellten Komponisten (Strauss, Schönberg,
Berg, Schreker, Janácek, Britten, Schostakowitsch, Nono,
Henze, Zimmermann, Rihm, Hölszky) führen zwangsläufig
auf das Problem, das bei jeder Liste auftritt: Interessant ist,
wer nicht draufsteht. Zum Beispiel Debussy. Ist dessen Pelléas
et Mélisande in seiner Singularität nicht mit
Zimmermanns Soldaten vergleichbar? Auch Bartók
ließe sich anführen. Und was ist mit Weill, Dessau und
Prokofieff? Warum Rihm und nicht auch Reimann, warum Hölszky
und nicht auch Lachenmann, warum neben Britten nicht auch Birtwistle
oder Maxwell Davis? Eine gesonderte Einleitung zu diesem mit 300
Seiten nicht gerade geringen zweiten Teil des Buches, in dem der
Herausgeber seine Auswahl, seine Sicht auf die Komponistenszene
begründet, wird schmerzlich vermisst.
Wollte man aus diesem Teil Einzelnes herausheben, ließe sich
auf die Essays der Autoren Ulrich Schreiber (Strauss) und Hans-Klaus
Jungheinrich (Henze) verweisen. Sie lesen sich mit Gewinn, weil
hier die Balance aus Subjektivität und Intellektualität
im einen Fall mit stärkerer Betonung am Werk, im anderen
an der Person jene keineswegs kritiklose Nähe und Intimität
herstellt, die uns in Kenntnis setzt ohne uns mit Zitatcollagen
abzuschrecken oder mit einspruchslosen Nacherzählungen zu langweilen.
Dem mit Entwicklungen überschriebenen ersten
Teil des Buches stellt Herausgeber Bermbach einen eigenen Beitrag
voran. Etwas geheimnistuerisch Über einige Aspekte
des Zusammenhangs von Politik, Gesellschaft und Oper im 20. Jahrhundert
variiert er darin den akademischen Gemeinplatz, dass niemand
und nichts der Politik entgeht.
Die eigentliche Darlegung setzt ein mit den Beiträgen von
Jens Malte Fischer (Im Schatten Wagners). Fischer beleuchtet den
deutschtümelnden, chauvinistischen Wagnerismus zwischen 1880
und 1930. Das Missverhältnis zwischen kulturimperialistischen
Begehrlichkeiten einerseits und mangelnder künstlerischer Potenz
andererseits, resultiere in vier derivate Gattungsformen: In Reckenoper,
humoristisch-volkstümlicher Oper, Märchenoper, Legenden-
und Erlösungsoper zeige sich das musikdramatische Pendant
zu dem literarischen Phänomen des sogenannten Professorenromans.
Ja so warns, die alten Wagnersleut kommentiert der genervte
Leser und springt nur allzu gern in einen faszinierenden Exkurs
zum französischen Wagnerismus von Baudelaire bis Massenet.
Auch wenn die in Frankreich über die Bühne gegangene
Innovation des Opernschaffens im 20. Jahrhundert im sich anschließenden
Beitrag von Jürgen Schläder thematisiert wird (Gegen
Wagner. Theatrale und kompositorische Innovation im Musiktheater
der klassischen Avantgarde) grundsätzliche Folgerungen
für die Entwicklungs- und Darstellungslogik des modernen Musiktheaters
zieht erst der luzide Aufsatz von Sieghart Döhring (Zwischen
Welttheater und Experiment. Französisches Musiktheater im 20.
Jahrhundert). Döhring stellt sich hier zunächst
den letztlich unlösbaren Definitionsproblemen, die entstehen,
wenn eine, im besten Sinn multikulturelle, europäische Operngeschichte
als nationalstilistischer Fortsetzungsroman erzählt wird. Döhring
fragt zu Recht, was denn eigentlich eine italienische, französische,
deutsche et cetera Oper ausmacht.
Döhring gelangt zu einer Lösung, die mit Blick auf die
Gesamtkonzeption des Buches einem methodologischen Entfesselungskunststück
gleichkommt. Der Fingerzeig gilt der Bühne, in diesem Fall
dem Pariser Musiktheater, das über fast zwei Jahrhunderte
das Schwungrad für den Prozess fortschreitender Internationalisierung
des Musiktheaters in ganz Europa und in Übersee bildete.
Im Pariser Musiktheater trafen sich Italiener, Deutsche und um 1900
schließlich auch Russen, hebt Döhring hervor. In dem
Moment, wo der Autor die konzeptionellen Engpässe des Herausgebers
überwunden hat, nimmt sein Beitrag Fahrt auf. Bezeichnenderweise
gelingt es nun auch, mit Verweis auf tänzerische Elemente
und epische Techniken bei Strawinsky, Milhaud und Poulenc
die von Bermbach intendierten Entwicklungstendenzen
im Opernschaffen herauszuarbeiten.