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nmz-archiv
nmz 2001/02 | Seite 36
50. Jahrgang | Februar
Oper
& Konzert
Auf den Spuren des Eigensinns
Zur Tagung der projektgruppe neue musik bremen
Zum zehnten Mal begab sich die projektgruppe neue musik bremen
auf die Suche nach zentralen ästhetischen Phänomenen der
Musik der Gegenwart. Von der Aktualität des Streichquartettes
über die Körperfrage bis zum Mythos kam man nun bei ...
Horizont ... Strategien des Eigensinns an. Dazu
waren wieder Musiker, Komponisten, Wissenschaftler und andere Interessierte
eingeladen, an drei Tagen in Konzerten Musik zu hören und zu
sehen und in Diskussionsrunden die Thematik zu behandeln.
Die Projektgruppe hatte dieses Mal die verbalen Auseinandersetzungen
in verschiedene Formen gegossen: Gespräch, Befragung, Verhör,
Vortrag und Podiumsdiskussion, und damit neue Wege zur sprachlichen
Erschließung der Thematik geöffnet. Auch die Vorträge
waren sehr anregend und instruktiv. So sprach der Berliner Philosoph
Albrecht Wellmer über den Weltbezug der Musik, Nicolas Schalz
entwickelte einen Kategorienkatalog der Musikdeutung und -analyse
über die Begriffe Dialektik, Wiederholung/Differenz, Rhizom/Wind,
vernetzte Streuung, und der Weimarer Professor für
Theorie und Geschichte künstlicher Welten Joseph
Vogl wies in seinen Moderationen, Komponistengesprächen und
Vorträgen auf ästhetische Implikationen der Theorien von
Gilles Deleuze hin. Es gelang jedoch erst auf dem Abschlusspodium
sich explizit dem Tagungsthema zu nähern.
Die Komponistin Chaya Czernowin
und der Philosoph Albrecht Wellmer im Gespräch.
Foto: Martin Hufner
Anscheinend ist das Phänomen des Eigensinns selbst zu eigensinnig,
als dass man es zu fassen bekäme. Solange man jedoch den Begriff
des Eigensinns wesentlich im Sinne von vereinzelter Sinn- oder Unsinnsetzung
von musikalischem Material versteht, wie es in vielen Beiträgen
der anwesen-den Komponisten geschehen ist, schrammt man an den möglichen
Äußerungen von Eigensinn vorbei. Dies führten auch
die vorgestellten Werke im Zusammenhang plastisch vor Augen. So
zeigten sich die musikalischen Poetiken von Bernhard Lang, Chaya
Czernowin, Peter Ablinger, Silvia Fómina und Carlfriedrich
Claus eigentlich als unvermittelbar zueinander. Sie gehen alle ihre
eigenen Wege und es hat den Anschein, dass es außer der Präsenz
in einem Konzert keine Schnittpunkte zwischen ihnen gibt. (Zum Beispiel
in dem etwas hilflosen Disput zum Materialbegriff zwischen Czernowin
und Fómina.) Aber Eigensinn nur als Negativfolie zu Gemeinsinn
zu verstehen, ist dann doch etwas wenig. Das Problem mag auch darin
liegen, dass man von Seiten der Veranstalter den Begriff des Eigensinns
als Möglichkeit der Emanzipationserfahrung zu deutlich in Stellung
gebracht hatte. Im Vorwort des Readers der Tagung steht dazu: Was
tun die Künstler heute ...? Sind sie auf der Suche nach einem
Horizont jenseits des Arrangements mit den Gegebenheiten oder entwerfen
sie Beschreibungen seiner Unauffindbarkeit? Wie verhalten sich die
Komponistinnen, die ihren Eigensinn nicht verleugnen wollen?
Eine bündige Antwort konnte diese Tagung nicht geben. Bernhard
Lang sprach in diesem Zusammenhang davon, gewissermaßen in
den Untergrund gegangen zu sein. Die Neue-Musik-Szene
lässt sich demnach auch nicht mehr gesellschaftlich funktionalisieren.
Sie marginalisiert sich in Einzelpersonen.
Vielleicht wäre aber auch ein anderes Szenarium denkbar: Nämlich,
dass sich das Feld gesellschaftlicher Emanzipationsbewegungen in
der Musik längst verlagert haben könnte. Der im Titel
angesprochene ... Horizont ... könnte sich dann
in der digitalen Welt des Internets neu auftun. Projekte wie Negativland,
Droplift oder Open Source mögen dafür
stehen. In den Vorträgen war insofern davon die Rede, wenn
sie die Welt der Neue-Musik-Szene gelegentlich überschritten.
In der Musik standen dafür am ehesten Fóminas Werke,
die ethnografische Elemente enthalten, Bernhard Langs durch das
Klangforum Wien dargebotene Differenz/Wiederholung 2,
das sich merkwürdig der Pop-Sprache nähert, oder Carlfriedrich
Claus Klangaggregat, eine krasse Menschenlaute-Studie
von 40 Minuten Dauer.
Dennoch ist auch die Ratlosigkeit ein Ergebnis dieser Tagung über
die man nicht traurig werden sollte. Auf jeden Fall stand man in
Kontakt, man redete miteinander und hob damit die Vereinzelungs-
und Vereinsamungsphänomene auf, insbesondere auch in den Tagungspausen,
die damit wieder einmal ein wesentlicher Bestandteil der Tagung
waren und sie so liebenswürdig und notwendig machen.