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nmz-archiv
nmz 2001/02 | Seite 54
50. Jahrgang | Februar
Konzerte für Kinder
Geheimzeichen der Partitur
Ein Kinderkonzert zum Bach-Jahr an der Musikhochschule Lübeck
Wer hat Angst vor Johann Sebastian? Unter diesem Motto
hatte der Studiengang Elementare Musikpädagogik an der Musikhochschule
Lübeck im November des vergangenen Bach-Jahres zu einem Hörerlebnis
für Menschen ab fünf Jahren eingeladen. Die Veranstaltung,
die im Rahmen der Konzertreihe Neue Wege zu Bach 2000
im Großen Saal der Hochschule stattfand, verfolgte einen doppelten
Zweck: Zum einen sollte den beteiligten Kindern und Erwachsenen
im Publikum ein alle Sinne integrierendes Hörerlebnis jenseits
des üblichen (Kinder-) Konzertbetriebs beschert werden. Körperliche
und damit auch emotionale Anbindung an das musikalische Geschehen
rangierten dabei vor konkret abprüfbarem Wissen über Komponisten
und Werk. Zum anderen galt es zunächst, den Studierenden die
Identifikation mit dem zu behandelnden musikalischen Sachverhalt,
also der Musik Johann Sebastian Bachs, zu ermöglichen und ihnen
die Prinzipien des Umgangs mit dieser Musik aufzuzeigen, die über
Rezeption und Reproduktion derselben hinausgehen, um dadurch ihre
pädagogische und methodische Kompetenz zu verbessern.
Musikauswahl
Zu Beginn der Planung stand die Auswahl geeigneter Musikstücke
und Werkausschnitte. Die Entscheidung fiel zu Gunsten des dritten
Satzes aus Bachs Violinkonzert Nr. 2 in E-Dur, weil dieser auf Grund
seines klaren formalen Aufbaus (Rondo) und des rhythmisch charakteristischen
Anfangsmotives im Ritornell dominante Merkmale enthält, die
das Hören strukturieren und Wiedererkennungseffekte ermöglichen.
Außerdem ließ die Dauer von insgesamt nur knapp drei
Minuten konzentriertes und mehrmaliges Hören zu. Alle Musikstücke
wurden live in einer kammermusikalischen Fassung für Violine,
Violoncello und Cembalo musiziert, wobei die beiden Streichinstrumente
im Lauf des Konzerts auch explizit vorgestellt wurden.
Raumgestaltung
Um eine optimale Beteiligung des Publikums zu gewährleisten,
muss der Gestaltung des Konzertraumes besondere Aufmerksamkeit gelten.
In diesem Fall flankierte das Publikum hufeisenförmig eine
rechteckige Tanzfläche, an deren offenem Ende die
Musiker platziert waren. Eine kleine Ausstellung mit Bildern von
Johann Sebas-tian Bach und seiner Familie beim Musizieren schmückte
ebenso den Konzertsaal wie grafische Partituren der
jeweiligen Musikstücke, die die Studierenden auf grossen Papierbögen
angefertigt hatten.
Sinnlich orientiertes Hören
Die Elementare Musikpädagogik enthält in ihrer Grundkonzeption
mehrkanalige Verfahren bei der Vermittlung musikalischer (Grund-)
Erfahrungen. Dies bedeutet unter anderem, dass alle Sinnesbereiche
vor allem jedoch auditiver, visueller, cutaner, kinästhetischer
und vestibulärer Sinn aktiviert und miteinander verknüpft
werden.
Die Aufmerksamkeit auf die
Musik fokussieren...
Foto: Martin Hufner
Hören geschieht also im Kontext von Fühlen, Bewegen,
Sehen und somit aktivem Mitvollziehen. Besonders Hören und
Bewegen sind auf Grund der physiologischen Ausstattung des Menschen
eng miteinander verwoben. Jede (auditive) Wahrnehmung geht auch
mit einer Empfindung einher, die sich in innerer Bewegtheit und
nach aussen gerichteter Bewegung zeigen kann. Erwartet man nun von
Kindern in einer Konzertsituation Bereitschaft zum aufmerksamen
und konzentrierten Zuhören und Hinhören, muss eben diesen
Gegebenheiten Rechnung getragen werden, damit die Musik zu einem
bedeutsamen und sinnvollen Erlebnis werden kann. Wie eine solche
alle Sinne einbeziehende, ganzkörperliche Hörsituation
aussehen kann, soll im Folgenden anhand des erwähnten Musikbeispiels
aus Bachs zweitem Violinkonzert kurz skizziert werden.
1. In Bewegung kommen...
Mit einer Applausrakete begrüßen Kinder und
Erwachsene aus dem Publikum die Musiker: Wir beginnen mit langsamen
und leisen Klatschern rechts und links neben dem Körper, die
sich in Tempo und Lautstärke allmählich steigern und im
gleichzeitigen Einsatz aller Körperinstrumente (Klatschen,
Stampfen, Stimmeinsatz etc.) kumulieren. Auf ein Zeichen eines Dirigenten
erfolgt eine plötzliche Generalpause, die mit einem leisen,
erstaunten Aaaahh beendet wird.
2. Alle Sinne öffnen...
Die Aufmerksamkeit des Publikums wird nun auf die ausgestellten
Bilder gelenkt: Was ist zu sehen, wer ist der Mann auf dem Bild?
In wenigen Sätzen wird Bach vorgestellt. Wertvolle Bilder benötigen,
damit sie richtig zur Geltung kommen, auch einen kunstvollen Rahmen.
Die musikalische Umrahmung der Bilder geschieht dadurch, dass das
an drei Seiten der rechteckigen Bühnenfläche sitzende
Publikum und die Musiker jeweils als Gruppe eine Leiste
des Bilderrahmens mit Klanggesten gestalten.
Eine Seite des Rahmens könnte beispielsweise aus hellem, harten
Buchenholz sein, das durch helles Händeklatschen dargestellt
wird. Hohles Händeklatschen und Aneinanderreiben der Hände
erinnern vielleicht an dunkles Ebenholz oder faseriges Kiefernholz.
Assoziationen zu weiteren Materialien (Papier, Metall, Plastik etc.)
sind möglich und verweisen auf zusätzliche klangliche
Varianten. Ideen aus dem Publikum werden aufgegriffen, die entsprechenden
Klangaktionen festgelegt und schließlich schreiten ein oder
auch mehrere Dirigenten die Bühnenseiten ab und
bringen dadurch den Rahmen zum Klingen.
3. Zurück zu Bach...
Bach schrieb das Konzert Numero Zwei in E für Violine...
Dieser Satz wird im Rhythmus der Bassstimme zu Beginn des Themas
zunächst gemeinsam gesprochen und mit verschiedenen Körperinstrumenten
(Klatschen, auf die Oberschenkel oder Schultern patschen, mit den
Füßen stampfen, gegen die Handflächen eines Partners
patschen etc.) begleitet.
Während der Wiederholungen setzen nacheinander das Cello, das
Cembalo und die Violine ein und spielen die ersten sechzehn Takte
des Themas mit. Die Violine und das Cello werden kurz vorgestellt.
4. Sich berühren lassen...
Obige Botschaft kann man auch in Geheimzeichen übersetzen,
die von den Musikern verstanden werden. Das Publikum begleitet den
Continuo-Rhythmus mit in die Luft gemalten Strichen/Bögen/Kringeln
und Punkten für lange und kurze Notenwerte. Die Textunterlegung
verschwindet dabei allmählich. In Bachs Violinkonzert gibt
es auch Teile, die an die Bilder und die grafischen Partituren der
Studierenden erinnern. Zur Musik schreiben sich zwei Partner (vorzugsweise
Elternteil und Kind) die Geheimschrift auf den Rücken oder
malen ein fantasievolles modernes Gemälde. Bei
Bedarf wird getauscht.
5. Mitspielen...
Jedes Kind erhält einen bunten Papierfächer, jeder Erwachsene
ein Holzdirigierstäbchen. Welche Klänge kann man diesen
Gegenständen entlocken? Ideen aus dem Publikum werden gesammelt
und ausprobiert. Das Publikum setzt die Materialien als Schlagzeug
ein, um den Continuo-Rhythmus zu begleiten und dirigiert in den
Zwischenteilen mit oder fächelt sich einfach nur Luft zu.
6. Mit allen Sinnen tanzen...
Alle Kinder begeben sich auf die Tanzfläche. Während
des Ritornells begleiten sie die Musik am Platz, indem sie ihren
Körper mit dem Fächer bespielen. In den Zwischenteilen
bewegen sie sich frei tanzend im Raum. Die Erwachsenen verfahren
mit den Dirigierstäben wie oben.
7. Zurücklehnen und geniessen...
Den Abschluss bildet die Vorführung einer szenischen Gestaltung
durch die Studierenden, die mit den in der Elementaren Musikpädagogik
relevanten Mitteln Körper/Bewegung, Stimme/Sprache und Instrumentalspiel
neue und wiedererkennbare Aspekte von Bachs Musik zum Ausdruck bringt.
Aus einer instrumentalen Improvisation über B-A-C-H entwickelt
sich eine Sprechfuge, in der Witziges und Wissenswertes rund um
Johann Sebastian verarbeitet ist. Höhe- und Schlusspunkt ist
eine Bewegungsgestaltung zum dritten Satz des Violinkonzertes, in
der ein Buchstabenrätsel versteckt ist, das vom Publikum erraten
wird. Nach einer abschließenden Applausrakete verlässt
das Publikum den Saal. Die Kinder erhalten am Ausgang einen essbaren
Buchstaben und nehmen den Fächer als Erinnerung mit nach
Hause. In diesem Sinne: Keine Angst vor Johann Sebastian!