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nmz-archiv
nmz 2001/02 | Seite 8
50. Jahrgang | Februar
Musik
in den Städten
Und jedermann erwartet sich ein Fest ...
Von Kunst bis Kult, von Figaro bis FrankNFurter ·
Im Nordharz kämpft das Theater ums Überleben
37 (in Worten: siebenunddreißig) Aufführungen wird
das Haus am Ende des Kurzmonats Februar über die Bühnen
gebracht haben, in den eigenen beiden Großen Häusern
nebst den dazu gehörenden Kammerbühnen und mit sieben
Gastspielen in der weiteren Umgebung. Das Angebot in diesen vier
Wochen umfasst sämtliche Genres, von der großen Oper
bis zur Mono-Oper (Wiederaufnahme von Grigori Frids Tagebuch
der Anne Frank), von Shakespeares Hamlet bis zu
Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf?, vom Land
des Lächelns (Premiere am 3. 2.) bis zum getanzten Sommernachtstraum
mit Musik von Mendelssohn und Schnittke (Premiere am 16. 2.), dazu
noch Theater für Kinder und Musicals und Kammer-Tanzabende...
Die Rede ist vom Nordharzer Städtebundtheater,
einer Mischung von Landesbühne und Stadttheater, einem der
kleinsten Dreispartenhäuser überhaupt, das mit eigenem
Orchester und Opernchor, Musiktheater-, Schauspiel- und Ballettensemble
aufwartet, samt Leitung, Dramaturgie, Betriebsbüro, Ausstattungswerkstätten,
Technik, Verwaltung eben allem, was ein modernes Theater
erst funktions- und überlebensfähig macht, das Ganze bei
220 Mitarbeitern mit einem seit Jahren unveränderten Etat von18
Millionen Mark (zum Vergleich: Karlsruhe 75 Millionen, Braunschweig
und Chemnitz je 50 Millionen) aus Mitteln des Landes, zweier Landkreise,
zweier Kommunen und einem Einspielanteil von fast 13 Prozent. Jawohl,
das ist Provinz, aber die kann sich hören und sehen lassen!
Zur Orientierung für geografisch und landeskundlich Unsichere:
Halberstadt (zirka 45.000 Einwohner) und Quedlinburg (25.000), vor
den nordöstlichen Abhängen des Harzes in Sachsen-Anhalt
gelegen, zählen zu jenen geschichtsträchtigen Orten, die
einst bessere Zeiten gesehen haben, unter dem realen Sozialismus
auch kulturell litten und wirtschaftlich nach dem Umbruch von 1990
heftig ins Schleudern gerieten. Die Region zählt heute zu den
besonders strukturschwachen eines ohnehin armen Bundeslandes, vom
Fortgang qualifizierter Arbeitskräfte wie durch hohe Arbeitslosigkeit
gleichermaßen geschwächt. Da bedarf es intensiver Überzeugungsarbeit
der Beteiligten und größter Anstrengungen aller Verantwortlichen,
das Kulturleben vor dem Verkümmern zu bewahren und ihm gar
neuen Schwung zu verleihen.
Ungebrochene Tradition
1992 wurden die Bühnen der beiden Kreisstädte zusammengeschlossen,
zunächst mit dem noch kleineren Ballenstedt, das aber bald
aufgeben musste und sich nun mit Gastspielen im klassizistischen
Hoftheater bescheidet. Halberstadt brachte seine ungebrochene Musiktheater-Tradition
in den Verbund ein; dort hatte es zu Anfang des 20. Jahrhunderts
sogar jährlich Wagner-Festspiele gegeben, und nach der Zerstörung
des Jugendstiltheaters mit der gesamten Altstadt im April 1945 war
der Spielbetrieb bald in einem mit Trümmersteinen zum Volkstheater
ausgebauten Tanzpalast wieder aufgenommen worden.
Die Ackerbürgerstadt Quedlinburg, mit ihren 1.200 Fachwerkhäusern
aus sechs Jahrhunderten neuerdings als Flächendenkmal von der
UNESCO zum Weltkulturgut geadelt, bot nach einem kurzen Drei-Sparten-Höhenflug
Sprechtheater, musste jedoch 1985 das Haus wegen Baufälligkeit
schließen und sich auf eine schlecht ausgestattete Kammerbühne
beschränken. Der gleich nach der Wende gegründete Musik-
und Theaterverein Quedlinburg setzte schließlich gegen
erhebliche Widerstände die zunächst teilweise
Sanierung des vor 75 Jahren nach einem Brand neu erbauten Theater-
und Lichtspielhauses durch; 1997 konnte es, mit einem auf
280 Plätze reduzierten Zuschauerraum aber mit erweitertem Orchestergraben,
wieder eröffnet werden; die Bestuhlung wurde durch Spenden
von Theaterfreunden finanziert.
Publikum wird gut bedient
Solange allerdings die Restaurierung des Bühnenturms aussteht,
erzwingt die geringe Bühnentechnik und tiefe Inszenierungen
von sehr bescheidenem Aufwand; daher kann derzeit nicht jede Halberstädter
Opern- oder Musical-Produktion auch in Quedlinburgs kleinem Großen
Haus gezeigt werden. Aber man höre und staune: Wer Lust auf
Figaros Hochzeit oder Carmen hat, der wird
auch in Deutschlands kleinstem Opernhaus derzeit gut bedient, für
27 Mark in der ersten Preisgruppe. Freilich macht auch Der
Vetter aus Dingsda dort Station, und die Sinfoniekonzerte
werden ebenfalls in beiden Städten angeboten. Den ganzen
Sommer hindurch bespielt das Nordharzer Städtebundtheater überdies
das herrlich gelegene Harzer Bergtheater Thale und die Waldbühne
Altenbrak im Bodetal.
Noch obenauf: Carmen (Gerlind
Schröder) setzt alle Mittel ein, um Don José
(Krzystof Moleda) zu betören.
Foto: Jan Mollérus
Ein neues und junges, dennoch professionell bereits erfahrenes
Leitungsteam mit Intendant Kay Metzger (40), Chefdirigent Johannes
Rieger (33) und Chefdramaturg Peter Oppermann (30) an der Spitze
hat spürbar für frischen Wind gesorgt. Das beginnt bei
der zugleich informativen wie Neugier weckenden Saisonvorschau mit
Spielplan-Mini-Leporello, setzt sich in zahlreichen Schnupper-Aktionen
fort und endet gewiss noch nicht bei der Ankündigung von George
Taboris Schauspiel Die Goldberg-Variationen und Debussys
Oper Pelléas und Mélisande für die
nächste Spielzeit.
Dabei verlangt das Konzept einen Spagat, denn, so lautet das Motto
dieser Saison mit den Worten des Theaterdirektors in Goethes Faust,
jedermann erwartet sich ein Fest, falls er sich überhaupt
in einer mitteldeutschen (Klein-)Stadt in den Zuschauerraum locken
lässt. Nur sind die Vorstellungen von Festlichkeiten eben reichlich
verschieden. Für die Senioren soll es vorzugsweise Operette
oder auch einmal ein klassischer Opernschlager sein. Um aber ein
jugendliches, neues Publikum fürs Theater zu gewinnen, muss
anderes her, und es müssen gezielt Köder ausgelegt werden.
Offensive Dramaturgie
Als offensive Dramaturgie bezeichnet Oppermann die
vielfältigen Bemühungen, auf das potenzielle Publikum
zuzugehen: Da bietet die ebenfalls neue und junge Theaterpädagogin
Anja Grasmeier im Theaterjugendclub die Möglichkeit zum Improvisationsspiel
mit wöchentlichen Übungen und Proben, da werden mit monatlichem
Lehrerstammtisch und Lehrerrundbriefen ebenso wie mit speziellen
Einführungsveranstaltungen und Aufführungen am Vormittag,
mit Plakat-Malwettbewerben oder einer Theater Dance Night (Eintritt
5 Mark; wer mit grünen Haaren kommt, zahlt nichts), mit
Materialmappen zu ausgewählten Inszenierungen und Theaterführungen
Kooperationsmodelle mit sämtlichen Schulgattungen erprobt
mit Erfolg, wenn auch in unterschiedlichem Maße.
Ein guter Intendant muss freilich nicht nur dem Publikum entgegenkommen,
er muss auch sein Ensemble pflegen, Sängern, Schauspielern
und Regisseuren wie auch Chor und Orchester schöne,
fordernde Aufgaben übertragen, denn die Entlohnung der
Begriff Gage ist hier wirklich als Fremdwort zu bezeichnen
ließe ein längerfristiges Engagement befähigter
Künstler kaum erwarten. Metzger weiß das natürlich
und ist glücklich über den tollen Geist im Ensemble,
an dem er gewiss nicht unbeteiligt ist: Es ist etwas sehr
Kostbares, was wir hier haben. Die Besucher spüren das,
auch wenn sie die Häuser derzeit keineswegs immer zu füllen
vermögen und auch, wenn nicht alle Leistungen als herausragend
zu bewerten sind.
Rundum enttäuscht, so scheint es, wird man bei einem Besuch
des Nordharzer Städtebundtheaters jedoch nie, statt dessen
sind immer Glanzlichter zu entdecken, wie etwa Gerlind Schröders
Carmen, Bettina Pierags Julia im Vetter aus Dingsda,
Kerstin Peterssons Gretel oder Bettina Rösels Susanna im Figaro.
Auch Kay Metzgers assoziative Regie der Bizet-Oper oder längere
Strecken der Mozart- und Humperdinck-Inszenierungen erreichen ein
Niveau, das die Erwartungen an ein Haus dieses bescheidenen Zuschnitts
deutlich übersteigt.
Erfolsknüller Rocky Horror
Größter Erfolgsknüller der Spielzeit allerdings
scheint Richard OBriens gute alte Rocky Horror Show
zu werden, die als Jahresschluss-Premiere herauskam und offenbar
selbst in der kargen Vorharz-Region funktioniert: Auch aus der weiteren
Umgebung bis zur Landeshauptstadt Magdeburg rücken sie zur
kultigen Show an, erfahrene Rocky-Fans und solche, die es werden
wollen, viele im geziemenden Straps-Outfit, selbst der Halberstädter
Oberbürgermeister wird mit Punkerfrisur gesichtet. Und während
ein wohl auf konventionelleren Theaterspaß programmiertes
Seniorenpaar nach einiger Zeit das Weite sucht, nestelt eine ältere
Dame, der im Foyer ausgelegten Bedienungsanleitung folgend,
im entscheidenden Moment eine Tüte Reis aus dem Handtäschchen;
um die Hochzeit von FrankNFurter und Rocky angemessen
zu feiern, schmeißt sie munter um sich.