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nmz-archiv
nmz 2001/02 | Seite 8
50. Jahrgang | Februar
Kulturpolitik
Mit der Nationalmannschaft im Singen auf Tour
Ein Interview mit dem Leiter und Gründer des Tölzer
Knabenchores Gerhard Schmidt-Gaden
Als Motto gab sich Gerhard Schmidt-Gaden, der seit 1956 den Tölzer
Knabenchor leitet: Spaß an der Musik. Bei der Ausbildung
der jungen Sänger verbanne ich jeglichen Intellektualismus
und fördere statt dessen Fantasie und Kreativität. Jeder
Sänger soll Eigenverantwortlichkeit übernehmen können.
Als junger Mann von 19 Jahren hat er den Chor gegründet; zu
einer Zeit, als sich alles musikalische Tun in Aufbruchstimmung
befand. Bis heute vermochte Schmidt-Gaden den Tölzer Knabenchor
auf ein absolutes Spitzenniveau zu entwickeln und zu halten. Pro
Jahr verzeichnet man heute etwa 250 Auftritte unterschiedlicher
Gruppierungen in Konzerten oder beim solistischen Mitwirken in Opernaufführungen.
Reinhard Schulz hat sich mit Gerhard Schmidt-Gaden über die
Perspektiven des Tölzer Knabenchors und über heutige Probleme
der jungen Sängerheranbildung unterhalten.
nmz: Herr Schmidt-Gaden, Sie haben eine umfassende Ausbildung
als Sänger und als Chorleiter erhalten, darunter in den 50er-Jahren
beim Thomaskantor Kurt Thomas in Leipzig und bei vielen bedeutenden
Sängern, zum Beispiel bei Helge Rosvaenge, Otto Iro und Julius
Patzak. Wie kam es denn zur Gründung des Tölzer Knabenchors?
Gerhard Schmidt-Gaden: Ich hatte in Tölz schon als
Student einen Chor gegründet. Und dann erfuhr ich in Leipzig,
dass Bach für seine Aufführungen in der Regel drei Sänger
pro Stimme eingesetzt hat. Der Thomanerchor war damals groß
besetzt und er wurde hauptsächlich durch strengen Drill zusammen
gehalten. Ich wollte einen anderen Weg einschlagen und der Tölzer
Knabenchor entstand gewissermaßen als Absetzung davon.
nmz: Wie war denn der Zulauf am Anfang?
Schmidt-Gaden: Es war von Anfang an schwierig und nur
in pausenloser Arbeit zu bewerkstelligen. Als Ideal schwebte mir
ein kleines Solistenensemble vor, wo jeder völlig frei solistisch
zu singen vermag und sich ebenso homogen in den Chorklang einordnet.
nmz: Bei einem Knabenchor ergibt sich ja immer wieder das
Problem des Stimmbruchs. Die Zeit für die Ausbildung ist kurz.
Schmidt-Gaden: Ja, und in dieser Zeit ist immer wieder
ein Spitzenensemble zu formen. Das hat auch Vorteile. Denn wir
sind immer zu äußerster Effektivität gezwungen.
Wenn die Knaben dann in den Stimmbruch kommen, dann müssen
sie freilich ausscheiden. Doch verloren ist dabei für die
einzelnen Sänger nichts. Die Technik bleibt und als Sänger
kann man sich so später drei oder vier Jahre Gesangsausbildung
sparen.
nmz: Sie legen großen Wert auf die individuelle,
die solistische Ausbildung der Knaben. Stimmbildung steht beim Tölzer
Knabenchor ganz oben.
Schmidt-Gaden: Ja, wir haben heute sieben Stimmbildner,
die die einzelnen Knaben individuell betreuen. Kaum ein anderer
Knabenchor legt so viel Gewicht darauf. Aber für mich ist
Stimmbildung das A und O der Chorarbeit.
nmz: Bevorzugen Sie eine gewisse Methode der Stimmbildung?
Schmidt-Gaden: Ich kenne viele. Aber meine Erfahrung
ist, dass sie oft zu abgehoben sind. Vieles beim Singen ist ganz
fundamental. Die Stimme muss frei werden. Und dafür gilt
es in erster Linie, individuelle Fehler zu vermeiden. Denn der
Ton der Stimme geht dort hin, wohin man ihn lässt. Er muss
sich kugelförmig entfalten können. Jede Stimme ist anders,
jede Psyche ist anders. Darauf versuchen wir genau einzugehen.
Ich habe sogar einen Psychologen, der mich immer wieder berät.
Und ohne ihn hätte ich gewiss viele Fehler gemacht. Es gibt
Kinder, die wollen sich immer an vorderster Stelle produzieren,
andere verstecken sich lieber. Wieder andere sind ständig
unruhig und abgelenkt. Das kann ganz unterschiedliche Gründe
haben: Übertriebene Anforderungen der Eltern oder auch Ablehnung
von zu Hause, etwa wenn die schulischen Leistungen sinken. Auch
der Leistungsdruck der Schule kann darauf einwirken. Da gilt es
immer, die Voraussetzungen zu klären und dann zum Beispiel
über Gespräche mit den Betreffenden zu bereinigen.
nmz: Stellen sich bei den Kindern manchmal Gefühle
der Unlust ein?
Schmidt-Gaden: Ja auch dies. Denn die Knaben haben ja
gewissermaßen neben der Schule einen zweiten Job zu machen.
Wir versuchen immer, gute Rahmenbedingungen zu schaffen. Jedes
Kind kann zum Beispiel kostenlos Nachhilfestunden erhalten, bei
längeren Konzertreisen fährt auch immer ein Lehrer mit.
Wir betonen immer, dass die Knaben gewissermaßen eine Nationalmannschaft
im Singen bilden, was die viele Mühe wert macht. Sind die
Widerstände dennoch zu groß, dann muss der Betreffende
ausscheiden. Und Gottseidank haben wir eine große Reservebank.
nmz: Sie haben nun fast 50 Jahre Chorentwicklung und besonders
die Entwicklung der Knabenchöre aus nächster Nähe
mitverfolgt. Was hat sich in dieser Zeit verändert?
Schmidt-Gaden: Feststellen lässt sich ganz deutlich,
dass die chorische Technik viel besser geworden ist. Tempi etwa,
die 1960 noch nicht denkbar waren, stellen heute aus technischer
Sicht kein Problem mehr da. Dann aber kam im letzten halben Jahrhundert
das Bewusstsein für den sogenannten Originalklang auf. Doch
hiervon muss die Knabenchorbewegung im Wesentlichen enttäuscht
sein. Da wird sehr viel Wert gelegt auf alte Instrumente, alte
Stimmungen, alte Ausführungstechniken. Doch der dafür
in der Alten Musik mindestens ebenso maßgebliche Klang von
Knabenstimmen, die ja auf Grund der Muskelkonstitution nicht mit
Frauenstimmen zu vergleichen sind, findet in der historischen
Aufführungspraxis weit weniger Berücksichtigung.
nmz: Herr Schmidt-Gaden, nach fast 50 Jahren Chorarbeit
müssen Sie nun auch über Ihre Nachfolge nachdenken. Wie
geht es weiter mit dem Tölzer Knabenchor?
Schmidt-Gaden: Ich beginne, mehr und mehr Verantwortungen
an die Stimmbildner zu übertragen. Und da habe ich ganz glückliche
Erlebnisse. Gerade gelang es uns, von der Schörghuber Unternehmensgruppe
eine langfristige finanzielle Unterstützung zu bekommen.
Wir haben jetzt ein Polster von 500.000 Mark pro Jahr. Die restlichen
1,5 Millionen Mark müssen wir einsingen. Von den Aufträgen
her können wir das ohne weiteres schaffen, doch wir dürfen
natürlich den Knaben das Singen nicht zur Last machen.