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nmz-archiv
nmz 2001/02 | Seite 39
50. Jahrgang | Februar
Jazz,
Rock, Pop
Nachschub
Von Helmut Hein
Chimären
Noch wird moralisch aufgerüstet und die Reinheit der Species
und der Genres beschworen. Aber die Zukunft gehört mit voraussehbarer
Sicherheit transgenen Chimären: organlosen Körpern,
von denen der gespenstische Surrealist und Hieronymus Bosch-Klon
Artaud genauso fantasierte wie, auf einem technoideren Level, der
Performance-Künstler und Wissenschafts-Futurist Stelarc. Die
Biologen basteln an Äffchen, deren Eiweiß leuchtet wie
das fremdartiger Tiefseebewohner und dass die Mensch-Maschinen die
Evolution des Homo sapiens fortführen und ihr natürliches
Biotop im Cyberspace und WorldWideWeb finden, daran zweifeln nur
noch Kulturkritiker, die ihre Reservate für die
Welt halten.
Faszinierende Konsequenzen hat das neue Chimärentum auch
im Bereich der Kunst. Mit den diversen Fusions, die
vor allem in den 60er- und 70er-Jahren grassierten, hat das nichts
zu tun: damals kam zusammen, was nicht zusammen gehörte, weil
die Ambition der Künstler größer war als ihr Geschmack
und ihre Kreativität. Classic-Rock oder Rock-Jazz
waren Produkte der Unzufriedenheit von Musikern mit ihrer sozialen
Reputation. Sie glaubten, Anerkennung zu finden, wenn sie demonstrierten,
dass Rock mit Klassik oder Jazz kompatibel ist oder, dasselbe Spiel,
nur eben auf der Seite der Arrivierten, dass Jazz und Klassik so
sexy und subversiv sein können wie der gerade angesagte
Gitarren-Machismo. Das Resultat war der kleinste gemeinsame Nenner,
eine im besten Fall rührende Seichtheit.
Das neue Chimärentum geht nicht auf Kosten der Differenz,
sondern betont sie. Radiohead etwa, im weitesten Sinn Maestri des
90er-Jahre-Brit-Pop, der selbst schon hoch-referenziell war, nämlich
den Mersey-Sound der Sixties auf unverwechselbare und souveräne
Weise zitierte, haben sich nie als Beat-Band im Stadium medialer
Selbstreflexivität verstanden, sondern als offene Kunst-Kommune,
in deren Factory alles Platz findet, sofern es sich
nur zerlegen und bearbeiten lässt. Radikaler noch als Nirvana,
die ja auch Massen-Appeal durch Verweigerung gewannen, setzten Thom
Yorke und Co. auf Demontage und Bruch. OK Computer (1997)
galt manchen britischen Pop-Magazinen als wichtigstes Album ever,
verkaufte fast fünf Millionen Stück und zwar paradoxerweise
indem es den Irrsinn einer multimedialen Welt ohne Authentizität
techno-virtuos beschwor. Bei Radiohead gab es drei Gitarristen und
die Band setzte sich für sämtliche Graswurzelrevolutionen
der Globalisierungsgegner ein und doch entstand in sich permanent
überlagernden Loops der chimärische Sound eines neuen
transhumanen Jahrtausends. Und wie Kurt Cobain wollte sich Thom
Yorke weigern, ein Star zu sein. Das filmische Tour-Tagebuch Meeting
People Is Easy des Video-Regisseurs Grant Gee geriet zu einer
Warholschen Beschwörung eines sich unablässig wiederholenden
Alltags und zu einem anti-babylonischen Pamphlet. Kid A,
das neue, nach vielen Geburtswehen endlich auf den Markt geworfene
Album (bei EMI), sollte ein virtuoses Kommerzialitäts-Verweigerungs-Dokument
aus dem Geist bohemistischen Künstlertums sein und landete
doch sofort auf den ersten Plätzen der Charts. Das ist erstaunlich:
denn Thom Yorke ist wirklich eine betörend düstere, zerrissene
Rock-Oper aus Songs und Sounds gelungen, die demonstriert, dass
sich Radiohead längst weniger auf die Beatles als auf die Kraut-Rock
und -Elektronik-Avantgarde der 70er-Jahre von Can bis Kraftwerk,
auf Ambient-Pioniere wie Brian Eno oder das neue Techno-Mönchstum
von Aphex Twin oder DJ Shadow beziehen. Dass in diesem Abbruch-Universum
aus lauter irritierenden Fragmenten selbst Brass-Jazz seinen Ort
finden kann, überrascht dann nicht mehr.
So wie Radiohead chimärischen Post-Beat, so machen Labradford
auf Fixed-Context (Mute) gespenstisch-suggestiven Post-Rock:
Morton Feldman oder John Cage sind hier näher als Metallica,
obwohl selbst die wüst durchscheinen können, aber die
dissonante Kammermusik erscheint hier als kaputter Jenseits-Sound
der, zerstückt und aneinander gereiht, hypnotisch wirkt. In
diesem chimärischen Neo- oder Trans-Pop, der keine Rang-Unterschiede
zwischen Genres, aber auch zwischen Sounds und Stilen mehr gelten
lässt, sondern alles auf gleichgültige Weise fragmentiert
und neu kodiert, entsteht eine in den Alltag eindringende, paradoxerweise
sehr körper- und umweltbezogene Maschinenmusik.
Demgegenüber wirkt Fatboy Slim fast schon old-fashioned.
Denn sein DJ-ing, das die happy few von Madonna bis Robbie Williams
verzauberte und zu nachhaltigen Kooperationen animierte, setzt auf
starke Kontraste: vor allem der maschinellen Körper-Beats aus
den funktionalen Discos der 90er mit dem Ältesten, was es gibt:
Stimmen, Soul, Sentiments. So wie ein Virus ein Gen
von einem Organismus zu einem ganz anderen transportieren und dort
einbauen kann, so verfährt Norman Cook mit den Geschichten
und Intensitäten, die in RnB und Soul stecken und
im vergangenen Jahr als RetroNuevo eine ungeahnte neue Karriere
begannen. Das Vermittelnde und das macht vermutlich den coolen
DJ und Starproduzenten aus sind die kleinen Effekte, die
fast schon unter die Hörbarkeitsgrenze rutschenden Sounds und
Gimmicks. Halfway Between The Gutter And The Stars (Epic/Sony)
ist beste Disco-Ware, die auch in anderen Kontexten genieß-
und dekodierbar ist. Sie hat aber mit dem fatalen Umstand zu kämpfen,
dass niemand so tot wirkt wie der, der gerade einige
Tage und Nächte auf allerhöchstem Intensitäts-Level
verbracht hat und dass nichts so leicht und so rasch verdächtig
erscheint wie das, was eben noch ganz unbezweifelbar schien.