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nmz-archiv
nmz 2001/02 | Seite 16
50. Jahrgang | Februar
Portrait
Carmen im Einkaufszentrum und Barber beim Polo
Der US-Dirigent John Axelrod erschließt der Klassik ganz
neue Hörerschichten
Als gehe es um letzte Dinge der Bitte des Künstlers,
für die Zeit unseres Gespräches auf die Beschallung des
Hotelfoyers zu verzichten, wird umgehend entsprochen. You
are welcome, John Axelrod, der 34-jährige texanische
Dirigent und Komponist gleitet lässig auf einen der umstehenden
Fauteuils.
Setzt auf die Massenmedien:
Dirigent John Axelrod.
Foto: ORCHESTRA X
Musik ist eine sehr abstrakte Sache. Über sie zu sprechen
lohnt immer, zumal sie dann auch besser verstanden wird. Und je
mehr Leute über Musik sprechen, desto objektiver wird die Aussagekraft
eines solchen Diskurses. In diesem Sinne folge ich ganz der Idee
des Symposiums, der dialogischen Annäherung an ein Sujet.
John Axelrod, das wird gleich zu Beginn des Gespräches deutlich,
geht es um mehr als Musik, um mehr als nur profilierte Darbietung
von Repertoire. Ebenso wichtig scheint ihm die sprachliche, mithin
analytische Seite künstlerischen Schaffens zu sein. So verwundert
es kaum, dass das Gespräch über Musik zunächst eine
andere Richtung nimmt: Thema Musikkritik. Mehr Kompetenz sei hier
gefordert, nicht nur im Falle der Kritiker, sondern aller Verantwortlichen,
die in Sachen Musik kommunizieren. Gefährlich subjektiv,
vor allem aber kriterienlos komme vieles daher, was über Musik
gesagt und geschrieben werde, und das schade ihr. Wie also der sogenannten
Ernsten Musik eine möglichst breite Öffentlichkeit
und objektive Diskussions-Foren schaffen? Axelrod setzt
in diesem Zusammenhang weniger auf die traditionelle Berichterstattung
in den Print-Medien, als vielmehr auf Radio und Fernsehen, auf Massenmedien
also, deren Struktur es erlaubt, nicht nur Kritiker und Musikwissenschaftler,
sondern auch Musiker, Komponisten und das Publikum an einen Tisch
zu bringen. Davon allerdings sei man noch meilenweit entfernt. Ein
Grund, warum Axelrod immer wieder auf die Möglichkeiten des
Internets zu sprechen kommt, dem einzigen Medium, wo derzeit wirklich
über Musik diskutiert wird und auch der musikalische Laie zu
Wort kommt.
Der Dirigent als Visionär, als zeitgemäß Unzeitgemäßer,
als einer, der die eingefahrenen Spielregeln der Klassik-Szene zu
subversieren sucht, um mit neuen Konzepten nicht nur ein größeres
Publikum zu erreichen, sondern in erster Linie auch Bewusstsein
für künstlerische Standards zu etablieren. Ziel Axelrods
ist es, zu unverbrauchten Diskursen über Musik zu finden, und
darüber hinaus den Kontext aufzubrechen, in dem Musik, klassische
Musik, heute stattfindet; einen Kontext, der von der Mehrzahl der
Künstler, der Veranstalter und von weiten Teilen des traditionellen
Publikums selbst etabliert und reproduziert wird. Ausgegrenzt würden
dabei jene, die mit den Regeln und Attitüden der Szene nicht
vertraut seien, vor allem also Kinder, Jugendliche und nicht-kultursozialisierte
Schichten.
Ist die Klassik-Szene demnach nicht mehr als ein Anachronismus,
ein künstlich am Leben gehaltenes, ins 21. Jahrhundert herübergerettetes
Gebilde ohne Lebenserwartung? Keine übertriebene Befürchtung,
denn bereits heute stöhnt die Klassikbranche über Absatzverluste,
und selbst renommierte Künstler spielen vor leeren Rängen.
Wenn sich nichts verändert, stehen wir bald ohne Publikum
da. Dagegen müssen wir vorgehen und neue Ansätze finden:
Die Ware, das Gut E-Musik muss wieder positiv ins Gespräch
kommen.
Klassik muss in einen verständlichen Kontext gestellt werden
und vor allem, sie muss allgegenwärtig sein. Will sagen, Klassik
sollte zum Label avancieren, zu einem Label, das ebenso positiv
besetzt ist, wie etwa das Stück Fleisch einer Fast-Food-Kette.
Die Jugend sollte dahin kommen, zu sagen heute gehen wir nicht
zu Mc..., wir gehen zu Tschaikowsky.
John Axelrod weiß, wovon er spricht. Denn für den international
vielbeschäftigten Dirigenten (Engagements unter anderem beim
Schleswig-Holstein-Musik-Festival, beim Orchestre National de Lyon,
dem MDR-Sinfonieorchester, den Düsseldorfer Symphonikern und
dem Nationalen Litauischen Sinfonieorchester), den Gründer,
künstlerischen Leiter und Chef des in Houston ansässigen
ORCHESTRA X und Ersten Gast-Dirigenten der renommierten Sinfonietta
Cracovia gab und gibt es ein Leben jenseits des Dirigentenpultes.
Und nicht nur das des Komponisten Axelrod, der etwa Dichtungen von
Dylan Thomas oder Walt Whitman vertonte und eine Kammeroper schrieb,
sondern auch das des Künstler-Managers, Musikverlegers, Veranstalters,
Autors und Produzenten. Dass Axelrod zudem der Karriere so hochkaratiger
Pop- beziehungsweise Rockmusiker wie Marc Cohn, Warren Hill, der
Smashing Pumpkins oder Jellyfish auf die Sprünge half, spricht
Bände. Und fragt man ihn nach seinen musikalischen Heroen,
so überrascht es kaum, wenn neben Gershwin, Copland, Bernstein,
Beethoven und Brahms auch Namen wie King Crimson, Emerson, Lake
and Palmer, Yes oder Genesis enthusiastisch angeführt werden.
Rockmusiker als Bezugsgröße für einen Klassik-Protagonisten
nicht einmal für Vertreter der jüngeren Generation
typisch, von Ausnahmen abgesehen. Der Blick auf Axelrods musikalische
Sozialisation verdeutlicht allerdings, wie sehr auch in diesem Fall
frühe Prägungen Konzepte und Ideen zu beeinflussen vermögen.
Als Kind war ich oft in der Kirche. Da meine Eltern viel arbeiteten,
musste ich mich selbst beschäftigen. Ich hörte also diese
wunderbaren Gospel-Musiker, ihren Jazz-inspirierten Gesang und kam
immer wieder (...), bis mir eine der Musikerinnen anbot, bei ihr
Klavierstunden zu nehmen.
Gospel, Jazz, Klaviermusik Grundsteine für eine beispielhafte
Karriere: 1984 Abschluss cum laude an der St. Johns
School in Houston; 1988 der Bachelors Degree in Music von
der Havard University. Nach siebenjähriger Tätigkeit in
unterschiedlichen Bereichen der Musikbranche dann der Durchbruch
für den Schüler von Leonard Bernstein (Komposition), Christoph
Eschenbach (Dirigieren) und Lyle Mays (Jazz Performance): Mit dem
ORCHESTRA X gründete Axelrod 1996 das, neben der Houston Symphony,
zweite professionelle Ensemble der Metropole.
X steht für außergewöhnliches Potenzial,
für ein höheres Bewusstsein, für Experimentierlust
und berauschende Konzerte, rühmt die Kritik. Und tatsächlich
setzt der kreativ-unkonventionelle Dirigent seitdem neue Maßstäbe
in der texanischen Musikszene. Eigentlich sind wir ein Rockn
Roll-Orchester zum Ausprobieren revolutionärer Strategien,
bekennt Axelrod augenzwinkernd. Understatement angesichts stets
ausverkaufter Konzerte, die zudem bisweilen an die 200.000 Menschen
im Internet verfolgen. Wo also liegt das Erfolgsgeheimnis eines
Orchesters, das, zumindest was sein Repertoire angeht, kaum anderes
aufbietet als die Konkurrenz? Geben Sie den Leuten Identifikationsmöglichkeiten,
gehen Sie mit dem Orchester raus aus dem traditionellen Konzert-Ambiente,
und Sie werden gewinnen! Der Klassik-Kosmos des ORCHESTRA
X sieht folglich anders aus. Keine Tempel, heiligen Hallen, keine
Götter in Frack und Fliege, sondern: Holsts Planeten
im Planetarium, Bizets Carmen im Einkaufszentrum, ein
Gershwin-Ellington-Abend im Club oder Copland und Barber auf einer
Polo-Anlage. Faszinierend verkehrte Welt oder einfach nur der Ausverkauf
hehren Kunstanspruchs?
Für Axelrod keine Frage, denn der Erfolg gibt ihm recht.
Die Erfahrung mit solchen Experimenten ist: Menschen, denen
klassische Musik auf diese Weise nahe gebracht wird, sind später
auch willens, traditionelle Konzertsäle zu besuchen und ihre
musikalische Bildungsreise dort fortzusetzen.
Marketing und Magie: Gegenpole, die in Axelrods Konzept zur harmonischen
Koexistenz geführt werden mit schlagenden Argumenten.
Künstlerische Integrität wird nicht durch Erfolg
desavouiert, sondern nur durch schlechte Musiker.