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nmz-archiv
nmz 2001/02 | Seite 23
50. Jahrgang | Februar
Rezensionen
Wo unsauberes Greifen Spielvorschrift ist
Neue Klaviermusik von Braun und Kagel für Kinder und Konzertpianisten
Unter den vorgelegten Klavierwerken fand ich zwei, die mein Interesse
in starkem Maße ansprachen, eine Sammlung von Kinderstücken
von Gerhard Braun und ein schwieriges, großes Konzertstück
von Mauricio Kagel.
Gerhard Braun, 1932 geboreer Flötist und Blockflötist
aus Stuttgart, hat von 1971 bis 1995 erfolgreich als Professor an
der Musikhochschule in Karlsruhe gewirkt. Er ist darüber hinaus
als Interpret, Leiter von Meisterkursen und als Herausgeber bekannt
geworden. Als Komponist hat er bisher vornehmlich Musik für
seine Instrumente geschrieben. Als sehr positive Überraschung
vor allem für Pädagogen hat er in der Edition
Gravis unter EG 659 eine kleine Sammlung von zwischen 1996 und 1998
entstandenen Klavierstücken für Kinder veröffentlicht;
Traumwelt, das fünfte in dieser Reihe, liefert
den Titel für das ganze Heft. Traumwelt, 12 leichte
und seltsame Stücke lautet die vollständige Bezeichnung
des Werks, das der Komponist seinem Enkel Sebastian gewidmet hat;
die ersten Silbenkombinationen des Kindes führten zum Namen
des ersten Stücks: Bumelit und Bumedak. Die relativ
einfachen und kindgerecht komponierten Sätze entsprechen einem
Schwierigkeitsgrad, der etwa mit dem dritten Heft des Mikrokosmos
von Bartók zu vergleichen ist. Sie umfassen bis auf
Nr. III je zwei großzügig und sehr gut lesbar
gesetzte Druckseiten; schade ist nur, dass in den beiden ersten
Stücken umgeblättert werden muss.
Braun verlangt von seinen Spielern neben bloßem Tastenspiel
einige inzwischen bekannte neuere Wege zur Klangerzeugung,
diese allerdings wohldosiert und in von einem Kinde zu bewältigenden
Ausmaß. So kommt zum Beispiel Präparation vor (Abdämpfung
mittels Gummikeilen) und der Einsatz eines Filzschlägels. Begriffe
wie space-notation werden erklärt:
Bei der space-notation (Nr. III und XII) richtet sich
die Dauer eines Tones nach der Länge des Dauerbalkens. Die
Sekundenangabe am Anfang des Stücks dient dabei als Orientierungshilfe.
Das rechte Pedal ist durchweg in konventioneller Form genau eingezeichnet.
In Nr. IX werden linkes und rechtes Pedal auch als Geräuschinstrumente
eingesetzt; an diesen Stellen stört allerdings, dass das Symbol
für das rechte Pedal tiefer notiert ist als das für das
linke. Eine Zeichnung von Gerhard Braun hat als Grundlage für
das ungemein ansprechende Titelbild gedient. Den kleinen Zyklus
Traumwelt von Gerhard Braun möchte ich unbedingt
für den Klavierunterricht mit Kindern empfehlen.
Mauricio Kagel, 1931 in Buenos Aires geborener und seit 1957 in
Köln ansässiger Komponist, legt in der Edition Peters
unter Nr. 8874 sein Passé Composé mit
dem Untertitel KlavieRhapsodie vor. Das zwischen 1992
und 1993 entstandene Werk umfasst 32 Druckseiten und wird ohne irgendwelche
Zusatzgeräte nur an den Tasten gespielt. Der Komponist gibt
eine Dauer von 20 beziehungsweise 21:30 Minuten an. Letztere Zeit
gilt für den Fall, dass der Spieler von der Möglichkeit
einer veränderten Schlussfassung Gebrauch macht und dabei szenische
Elemente einfließen lässt: Im letzten Takt schaltet der
Ausführende einen Kassettenrecorder oder einen anderen Tonträger
per Fernbedienung unbemerkt ein, der innerhalb oder unterhalb des
Flügels versteckt ist. Aus einem Lautsprecher soll zusammen
mit dem gespielten und in dieser Version allmählich verklingenden
Schlussakkord aus dem Stück ein leiser, durchsichtiger
Teil erklingen, der vorher aufgenommen wurde. In seinem Kommentar
zu dieser Stelle gibt Kagel einen Hinweis auf den Titel der Komposition:
Gerade der unvollkommene Klang des eingebauten Lautsprechers wird
hier der Atmosphäre einer unbestimmten Vergangenheit
am ehesten entsprechen. Unmittelbar nach dem Anschlag des letzten
Akkords erstarrt der Pianist und bleibt in dieser Stellung bis zum
Ausklingen der Einspielung. Kagel hat hier ein in freier Form geschriebenes,
groß angelegtes Klavierwerk veröffentlicht, das an ältere
Traditionen anknüpft. Es treten Motive beziehungsweise Themen,
aber auch Spielformen auf, die zwar an die Vergangenheit gemahnen,
aber im Gesamtbild des Stücks echten Kagel ergeben;
Vergangenheit und Gegenwart vereinigen sich zu Zeitlosigkeit. Erheblich
sind die technischen Anforderungen, die der Komponist an seine Interpreten
stellt, die nicht zuletzt über Hände mit großer
Spannweite verfügen sollten. In Takt 217 schreibt der Komponist
vorsichtshalber ossia: unsauber greifen. In Passé
composé beweist Kagel, dass er auch als Klavierkomponist
ein wichtiger Repräsentant Neuer Musik ist; versierte Pianisten
sollten sich mit diesem Stück beschäftigen.