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nmz-archiv
nmz 2001/02 | Seite 12
50. Jahrgang | Februar
Kulturpolitik
Tagebuch
Abschied
Dies ist das letzte Tagebuch. Ich höre auf. Ich freue mich
auf das Aufhören, denn danach beginnt etwas Neues: der Versuch,
das Leben zu ordnen, Kindheit Verfolgung Krankheit
Kunst. Was bedeutet Kunst in diesem Kontext? Was bedeutete
sie mir, was konnte sie, indem ich darüber schrieb, sie produzierte,
anderen bedeuten? Ich brauche für diesen Versuch einer selbstkritischen
Bilanz den freien Kopf. Es gibt noch viele andere Gründe für
das Aufhören, aber sie sind privater Natur. Da stock
ich schon: Lässt sich das Private vom Öffentlichen, vom
Gesellschaftlichen trennen? Um Himmels willen: nicht zu den Hunderten
von Essays über dieses Thema einen weiteren; kein Geschwätz
mehr. In meinem Fall wurden die Erinnerungen an Fixpunkte der eigenen
Biografie immer wichtiger für die Einordnung gegenwärtiger
Erfahrungen. Die Grenze scheint mir nun erreicht zu sein
auch dies ein Grund für den lange durchdachten Entschluss.
Der Abschied ist zugleich ein Dank: an alle, die mir zugehört
haben, und auch oder besonders an jene, die mir widersprachen.
Noch eine Anmerkung: Bisher hielt ich es mit Mauricio Kagel und
seiner Danksagung bei der Entgegennahme des Ernst-von-Siemens-Musikpreises
2000: Er bezeichnete Computer und Internet als technologische
Naturerscheinungen, von deren Kraken er sich noch
nicht freiwillig fesseln ließ. Den Begriff Naturerscheinungen
würde ich für diese von Menschen gemachten Hilfsmittel
nicht als zutreffend ansehen, aber ich konnte bislang ohne sie auskommen.
Das verursachte oft Mühen und Kosten, aber es gab auch Zeit
zum Denken, Anlass zu unvernetztem Forschen. Ich möchte daran
noch eine Weile festhalten. Mein Gedächtnis ist mir wertvoll
selbst dann, wenn es die Ereignisse willkürlich ordnen und
zu einem neu gedachten Zeitstrom bündeln sollte.
Spurensuche
Quinquin, Er soll jetzt gehn, Er soll mich lassen. Ich werd
jetzt in die Kirchen gehn, und später fahr ich zum Onkel Greifenklau,
der alt und gelähmt ist, und ess mit ihm: Das freut den alten
Mann. Die Feldmarschallin weiß am Ende des ersten Rosenkavalier-Aufzugs,
dass ihre Zeit mit Octavian vorbei ist. Das Schlussterzett könnte,
wären wir nicht in der wundersamen Zeit-Entfaltung der Oper,
hier schon folgen. Wer aber ist der Onkel Greifenklau, der als Person
nicht aufscheint? Diese Frage gehört, neben vielen anderen,
zu den ungeschriebenen Themen des Tagebuchs. Es geht ins siebte
Jahr; kaum anzunehmen, dass ich je zum Aufarbeiten dieser Notate
gekommen wäre. Ich suchte Spuren freizulegen, mir bewusst zu
machen, was hinter Ereignissen, Kunst-Phänomenen, Begegnungen
ungesagt, vielleicht ungedacht geblieben war; ich habe in diese
Begebenheiten auch hineingedacht, was mir zur Stunde wichtig schien.
Ich war unzufrieden mit dem bloßen Bericht, auch mit dem zuweilen
besserwisserischen Kommentar, der sich Kritik nennt. Über Musik
zu sprechen hieß immer schon, auch über den Raum zu sprechen,
in dem sie erklingt, und dieser (gesellschaftliche) Raum hat sich
seit der Gründung der Musikalischen Jugend/neuen musikzeitung
in damals unvorstellbarer Weise verändert. Rückschauend
glaube ich, dass die Spurensuche auch Mitte der Fünfzigerjahre,
als ich dazustieß, eine wesentliche, wenngleich selten ausgesprochene
Rolle gespielt hat; die Frage, was die Idee zur Gestalt treibt und
wie daraus neue Ideen hervorgehen. Ich möchte die Besonderheit
der nmz darauf nicht reduzieren, zumal die Breite des musikalisch-gesellschaftlichen
Spektrums und das konkrete Ansprechen seiner Phänomene in diesem
Merkmal nicht aufgehen. Wenn ein Werbetext für die Zeitschrift
Musik & Ästhetik behauptet, dass die
bestehenden Musikzeitschriften sich ... entweder nur akademisch
spezialisieren oder sich in reine Publikumszeitschriften umwandeln,
kann die nmz nicht gemeint sein. Ich gehe wie Quinquin, weil die
Zeit mich drängt, andere Spuren aufzunehmen. Mit Kagels Worten,
nach Regensburg gewandt: Danke. Schön.
Entlastungsbetrug
Das Ende der Postmoderne hatten Hanspeter Kyburz,
Isabel Mundry, Gösta Neuwirth und ich in Sendungen für
den SFB und den Bayerischen Rundfunk zu Beginn der Neunzigerjahre
vorzeitig herbeigeredet. Der Postmodernismus in seiner ideologischen
Fixierung ist in der Tat wohl Schnee von gestern; jedenfalls
wird er nicht mehr diskutiert. Aber er ist eingesickert in das Denken,
in die künstlerische Produktion. Oft ist damit uneingestandene
Resignation verbunden insofern, als nur der Augenblick gilt.
Das Ausmalen von Perspektiven, gar Utopien steht im Ruch der Rückständigkeit,
der Ungeschichtlichkeit. Scheinhaft wird die Autonomie der Differenzen
als vermeintlicher Befreiungsakt dagegengesetzt, soziale Entwurzelung
zwar nicht bestritten, aber zur Voraussetzung individueller
Selbstentfaltung verklärt (Werner Seppmann).
Die Warenästhetik, Angriffsziel der 68er, gilt längst
als chic und unbefragbar, Substanzverlust wird als individuelle
Freiheit verkauft. Die Entlastung von kritischer Befragung dessen,
was ist, wird zur Illusion der Freiheit des Einzelnen; ich nenne
das einen Entlastungsbetrug.
Adorno hat 1964 in Bremen die musikalische Geschichte der
letzten vierzig Jahre weitgehend eine Geschichte musikalischer Entlastungsversuche
genannt. Er meinte kompositorische Verfahrensweisen Zwölftontechnik,
serielles Denken, gelenkten Zufall, Unbestimmtheit , die das
unsicher gewordene Subjekt entlasten. Aber damit ist eine scheinhafte
Objektivität gesetzt, die sich blind über die Köpfe
der Subjekte hinweg vollzieht, und gegen sie melde beispielsweise
die Musik von HansJoachim Hespos den prekären Einspruch
des Subjekts an (HeinzKlaus Metzger). Metzgers Text
stammt von 1969. Heute, ergänze ich, hätte der Einspruch
des Subjekts weniger den musikalischen Entlastungsversuchen
als dem postmodernen Entlastungsbetrug an der Gesellschaft zu gelten.
Ihn aufzudecken ist politisch, wie verhüllt auch
immer ins künstlerische Symbol. Dem Thema Musik und Politik
sind zwei Sendungen von HannsWerner Heister im Rahmen der
SüdwestrundfunkReihe Vom Innen und Außen
der Klänge am 9. und 16. Juli 2001 gewidmet. Aus dem
Einleitungstext: Das Politische in der Musik ist
eine konzentrierte Form des Gesellschaftlichen in der Musik. Alle
Musik hat somit eine latent politische Dimension. Politische
Musik als Bestandteil der Ästhetik des Widerstands ...
entwirft sinnlichkonkret Gegenbilder, macht das, was anders
wäre, imaginärreal gegenwärtig. Das bedeutendste
Werk eines noch lebenden Komponisten der letzten fünfzig Jahre,
Helmut Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern,
ist politische Musik; nicht nur latent, denn es gibt
bei Lachenmann keinen Unterschied zwischen Latenz und Erscheinung.
Doch Sätze wie dieser drohen die Erinnerung zu beschädigen.
Nichts Apodiktisches mehr. Gespräche Proben Aufführungen
im Hamburger Winter, Januar 1997: getrieben von meiner brennenden
Begierde (Leonardo da Vinci) mit denkenden Sinnen
(Georg Picht) gefangen vom Ausdruck tiefster Trauer
(Reinhard Schulz). Die Erinnerung wandelt sie in größte
Freude. Das Mädchen mit den Schwefelhölzern
ist politisch, weil es freundlich zu den Menschen ist. Das Freundliche
kann zur Freundschaft werden.
Wo fühlt sich die Musik heute zu Hause? Braucht
sie besondere Orte, neue Orte, schafft sie neue Räume? Über
die veralteten Opernhäuser und Konzertsäle
wird seit Jahrzehnten diskutiert. Angeblich braucht das Subversive
die neue Umgebung. Der Beweis blieb bisher aus. Entlastungsbetrug
wohl auch dies. Keiner will ihn. Einspruch erheben, jederzeit.
Machts gut!