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nmz-archiv
nmz 2001/09 | Seite 51
50. Jahrgang | September
Dossier: Musikkritik
Bei Nachrufen hilft keine Ausflucht
Gerhard Rohde zum siebzigsten Geburtstag
Die bessere Musikkritik ist der Nachruf. Die besten Musikkritiken, die Gerhard Rohde geschrieben hat, sind
seine Nachrufe. Anders als die Kritik verschmäht der Nachruf beckmesserisches Nörgeln im Detail. Beim
Abfassen des Nachrufs blättert vielmehr ein in sich ruhender Hans Sachs in der Stadt- und Weltchronik der
Sänger-, Dirigenten- und Instrumentalistenkarrieren, erinnert sich an Sternstunden wie Debakel in Opernhäusern
oder Konzertsälen und bilanziert mit ruhiger Hand ein Musikerleben.
Rohdes Nachrufe durchweht fast immer ein melancholischer Zauber. Das liegt nicht unbedingt an der Trauer über
den Verblichenen. Es ist mehr noch Rohdes eigene Schwermut da- rüber, dass mit dem betreffenden Künstler
wieder ein Stück der vertrauten Kunst-Welt weggebrochen ist. Jenes Rohdesche Elysium besteht aus
Tausenden von Aufführungen, die er seit seiner frühen Jugend gesehen und gehört hat. Dieser Erfahrungsschatz
ist seine Stadt- und Weltchronik. Sie ist vollkommener und wertvoller als jede Musik-Enzyklopädie. Und
sie speist sich aus einer Tradition künstlerischen Vollkommenheitsstrebens, das Rohde im heutigen Opern-
und Musikbetrieb immer weniger zu finden glaubt; wenn Aufführungen denn doch nicht ganz unheikel oder gar
debakulös geraten, kann Rohde in einer tagesaktuellen Kritik der heilige Zorn pa-cken. Gerade in seinen
Nachrufen dagegen trüben weder Hass noch Liebe das abschließende Urteil, das er über einen Künstler
fällt.
Die Nachrufe sind abgeklärt, enthalten oft überraschende Details und Offenbarungen post mortem über
die betreffende Person, manchmal auch kleine Indiskretionen. Sie sind nie liebedienerisch, denn Rohde verschweigt
die Schwächen der Dahingeschiedenen nicht, auch wenn er es versteht, Fehler und Fehlleistungen in subtile
Formulierungen zu fassen. Zu einem Nachruf gehört es, dass er in kürzester Zeit, manchmal nur in Minuten,
geschrieben werden muss. Rohde hat, soweit bekannt, nie für den Giftschrank Nachrufe vorgefertigt.
Für ihn gehört es zum Verständnis der Kritikertätigkeit, dass seine Beiträge möglichst
in der letzten Minute oder auch noch danach auf den Weg in die Druckerei gebracht werden, um frisch
und authentisch zu wirken.
Jeder Text, den Rohde verfasst, muss zuerst die Unentbehrlichkeitsprobe bestehen: Wenn der Redakteur schließlich
kapituliert, weil Rohde auch in der allerallerletzten Minute noch nicht geliefert hat, ist es der Gegenstand
oft tatsächlich nicht wert, dass über ihn berichtet wird.
Die Liste der von Rohde nicht geschriebenen Beiträge ist lang. Manche von ihnen sind seine vielleicht
besten Texte. Rohdes Nedbal-Biografie bezieht einzig aus dem Mysterium des Nichtgeschriebenseins ihren hohen
Rang. Mit seiner ausgeklügelten Hinhaltetaktik, den Point of no return bei der Unentbehrlichkeitsprobe
herauszufinden, hat Rohde manchen Redakteur schon zur Verzweiflung gebracht.
Bei Nachrufen hilft keine Ausflucht. Sie müssen so schnell wie möglich geschrieben werden. Die Unentbehrlichkeitsprobe
besteht in diesem Fall nur in der Überlegung, ob die betreffende Person eines Nachrufs überhaupt würdig
ist und ob in der aktuellen Ausgabe der Zeitung oder Zeitschrift noch Platz ist oder Platz frei gemacht werden
kann. Ist die Entscheidung gefallen, können Rohde selbst die herrlichsten kulinarischen Lockungen nicht
verführen. Er beginnt unverzüglich zu schreiben.
Man möchte, wenn es nicht zu frivol wäre, noch vielen Musikern wünschen, dass ihnen Nachrufe
von Rohde beschieden sind, weil ihre Leistung auf diese Weise der Nachwelt so einfühlsam wie von keinem
anderen deutschen Kritiker überliefert wird. Sich selbst würde Rohde vermutlich nur mit einem eigenen
Nachruf gerecht. Einem nicht geschriebenen, selbstverständlich.