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nmz-archiv
nmz 2001/09 | Seite 49-50
50. Jahrgang | September
Dossier: Musikkritik
Der zeitliche Vorsprung einer Erkenntnis
Über seherische und sonstige Eigenschaften der Musikkritik · Von Dieter Rexroth
Musikkritik heute! Nein, das ist auch nicht mehr das, was es einmal war; möchte man meinen, zumal
sie in ihrer Sachbezogenheit kaum auf eine Leser- beziehungsweise Hörerschaft trifft, die nicht ebenso
wie jene, die sich professionell kritisch zu Werken, zu Interpretationen, zu Neuem und Neuartigem, zu Fragen
des Musiklebens und Problemen unserer musikalischen Institutionen in öffentlichen Medien äußern,
sehr unterschiedliche Positionen und Interessen vertreten und verfolgen.
Ein diffuses Bild und als solches durchaus Abklatsch einer kulturellen, gesellschaftlichen Situation, bei der
man inzwischen nicht mehr weiß, ob es überhaupt noch eine Verbindlichkeit des öffentlichen Consensus
darüber gibt, was uns kulturelle Traditionen, ihre Statthalter, die Institutionen, was uns endlich die
Kunst und die Künstler noch wert sind. Das muss automatisch die Frage nach sich ziehen, welcher Wert dann
wohl heute musikkritischer Arbeit zukomme und vor welchem Bedeutungshorizont wohl das Geschäft, die Leistung
und die Existenz des Musikkritikers verstanden werden dürften.
Es war einmal, da Musikkritik im Sinne von Kants Kritik der praktischen Vernunft von 1788 sich
als eine Instanz verstand, welche die abstrakte Welt der Ideen und deren Emanationen und Manifestationen in
den Kunstwerken begreifbar für eine Allgemeinheit zu machen suchte und zugleich die Eigengesetzlichkeit,
die Subjektivität und Egozentrik der künstlerischen Arbeit und des künstlerischen Selbstverständnisses
aus dem Anspruch auf eine intersubjektive Struktur der gesellschaftlichen Kommunität zu verstehen und zu
werten suchte. Das funktionierte gewiss nicht so ohne weiteres nach idealtypischem Muster. Nicht zufällig
spielte für viele Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts, zumal für solche, die sich mit ihrem künstlerischen
Schaffen dem Fortschritt verbunden wussten, die schriftstellerische Arbeit, das Feuilletonistische
und die kritische Stellungnahme zu Phänome- nen der Musik und des Musiklebens eine wichtige Rolle. Der
Künstler selbst als Anwalt eigengesetzlicher Subjektivität; im Dienste von Musik, deren gesellschaftliche
Legitimität durchzusetzen war! Gerade hieraus lässt sich feststellen, welche Bedeutung
dem Schreiben über Musik zukam, indem es darauf ankam, nicht nur eine öffentliche Diskussion über
künstlerische Erscheinungen und kulturelle Ereignisse zu führen und somit die Geschehnisse als öffentliche
zu definieren, sondern insbesondere auch gegenüber der Öffentlichkeit ein Kunst-Urteil zu begründen
und darzulegen, dessen begrifflicher Erkenntniswert gegenüber der sinnlich erfahrenen ästhetischen
Realität eine öffentliche Verbindlichkeit erhalten sollte.
Ich bin überzeugt, in vielen Musikkritikern und Musikschriftstellern von heute lebt ein ähnlicher
Anspruch und Wunsch wahrscheinlich aufgrund sehr elementarer Erlebnisse aus der Jugendzeit, da man einen
Sinn für die eigene Existenz und für die eigene Lebensperspektive aus der Berührung und der Getroffenheit
durch die Begegnung mit Kunstwerken und ihren Schöpfern erfuhr. In vielen Beiträgen professionell-kritischer
Zeitgenossen wird denn auch durch die Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung spürbar, dass man weiß
um die große Rolle der Vermittlung und Kommunikation, nämlich Licht zu werfen auf die Kunstwerke
selbst, auf die ästhetischen Wirklichkeiten und deren Hintergründe und Bedingungen. Aber nicht zum
Zwecke ihrer Verklärung in einem Abgehobensein und in Selbstgenügsamkeit; vielmehr mit dem Ziel, bewusst
zu machen, dass letztlich und immer wieder die Kunst selbst in ihren konkreten Erscheinungsformen mit ihren
Folgen der öffentlichen Anerkennung und Ablehnung es ist, welche die Substanz unserer Kultur und damit
auch ihrer Zukünftigkeit bildet.
Nun wissen wir seit langem, dass allerdings die Bedingungen und Strukturen, in denen sich die Musikkritiker
von heute bewegen, sich erheblich verändert haben und eine Schnelllebigkeit insgesamt um sich gegriffen
hat, welche die große Aufgabe zur flüchtigen Angelegenheit verkümmern lässt
beziehungsweise in Medienbereiche und -winkel verbannt, wo von Öffentlichkeit nicht mehr die Rede sein
kann. Insgesamt aber leidet das Thema Kultur in den Medien daran, dass es zu einer Nebensache geworden
ist, was genau dem entspricht, dass die Dimensionen des Kulturellen im öffentlichen Leben und Bewusstsein
sowie im Kontext des politischen Handelns von ausgesprochener Nachrangigkeit sind, zusammen mit dem Thema Bildung.
Man gewinnt heute immer wieder den Eindruck, dass letztlich doch alles, worüber da von künstlerischen
Ereignissen, von Neuheiten, von Neuauslegungen und so weiter gesprochen, berichtet, geschrieben wird, belanglos
bleiben wird, auch oder gerade wenn dabei in der Emphase der Kritik erkennbar wird, hier gelten die Worte einer
Entdeckung, einem Phänomen von kulturhistorischem Rang, dem sich die öffentliche Aufmerksamkeit nicht
verweigern darf. Apropos Aufmerksamkeit! Ja diese benötigt der Kritiker in dem wüsten Gewirr des kritischen
Geschäfts allemal, und er unterliegt nicht selten jener Sucht nach Profil, die heute generell so verbreitet
ist und als Markttendenz kritisch zu sehen wäre. Problematisch wird es hierbei, wenn völlige Unangemessenheit
in Darstellung und Wertung insbesondere bei jungen Künstlern oder auch gegenüber Unvertrautem
(z. B. Neue Musik aus Island, Aserbaidschan u. a.) herrscht und der Kritiker seine Rolle verkennt, wenn er sich
zum Maßstab aller Dinge macht. Der kritische Umgang mit jungen Künstlern, mit Neuem und Anderem verlangt
Erfahrung und Vor-Sicht. Das kann nicht austauschbar einem jeden abverlangt werden. Auch nicht, wenn es um kulturpolitische
Themen geht, die heute interessanterweise die Themen der Kunst und ihrer Entwicklung verdrängt zu haben
scheinen. Hier ist Kompetenz und anerkannte sachbe- zogene Autorität des Kritikers von höchster Bedeutung.
Denn hier ist eine Verantwortung gefordert, an deren Einlösung die auch heute noch wichtige Funktion der
kritischen Stellungnahme schlagend deutlich wird. Wenn Orchester und Theaterbetriebe verkleinert, fusioniert
oder gar abgewickelt werden sollen, dann hat das Ursachen und Gründe. Aber das hat auch Folgen,
und dies nicht nur für die unmittelbar Betroffenen, sondern für die Gesamtheit einer kommunalen Lebensstruktur;
und selbst dabei bleiben die Folgen nicht stehen. Sie werden weiter greifen. Wenn nicht alles täuscht,
vollziehen sich zur Zeit Veränderungen und Wandlungen in unserem Musikleben und dessen Strukturen, die
einerseits Folgen sind eines bereits seit längerem sich vollziehenden Wandels im kulturellen Bewusstsein
unserer Gesellschaft, deren erhebliche Veränderungen seit drei Jahrzehnten die Bedingung dazu bilden; andererseits
entwickeln sich mit diesen Veränderungen im Bereich der Institutionen neue Strukturen und Wertevorstellungen,
deren Tragweiten wir noch gar nicht ermessen können, allenfalls da- ran erspüren, dass der gesamte
Musikbetrieb inklusive seiner scheinbar dagegen stehenden Spezifika mehr und mehr zu einem Servicebetrieb tendiert
mit allen Erscheinungen, die der Markt in seiner Abhängigkeit vom Ausgleich zwischen
Angebot und Nachfrage fordert. Solche Erscheinungen reichen vom Starkult bis zum kultisch-religiösen Grundbedürfnis
des spätmodernen Bürgers, von Purismus bis zum interessebestimmten Wohlgefallen an einer Musik, die
sich wunderbar einpasst ins Gefüge bestimmter genormter Lebensansprüche; und so fort.
Vor diesem Hintergrund und Zukunftsbild, das allzu gerne in katastrophischen Farben gesehen wird, fällt
dem kritischen Begleiter der Entwicklungen eine hohe und schwere Verantwortung zu, insofern als seine Überlegungen,
Analysen und Einschätzungen durch das Gewicht des Öffentlichen, das ihnen zukommt, auch eine besondere
Wertigkeit zukommt. Die kann durch persönliche Authentizität getragen, aber auch durch die dahinter
stehende Medieninstitution bedingt sein. So ruft unter Umständen eine kurze Meldung in BILD
mehr Echo und Wirbel hervor als ein sorgfältig recherchierter und reflexiv gehaltener Bericht in einer
seriösen Tages- oder Wochenzeitung.
Man möchte angesichts dieser Situation oftmals verzweifeln und die Lust, sowie jeden Mut zur Initiative
verlieren. Denn was dann geschieht und man geschehen lassen muss, trägt oftmals Züge des Paradoxen
und Absurden. Aber auch darin gleicht diese Musikszene offensichtlich der Welt, ihrem Getriebe und der Geschichte,
deren vermeintlich logische und vernünftige Strukturen immer wieder die Fratze des Absurden und Irrationalen
hervorkehren. Was aber bleibt dann bei diesem Sisyphos-Geschäft? Vielleicht doch ein zähes Festhalten
am bestmöglichen kritischen Diskurs, der Glaube an die existenzielle Notwendigkeit von Kunst für den
Menschen und an die Chance, in der Begegnung mit musikalischer Produktion und schöpferischer Kraft einen
Weg des Selbsterkennens zu finden. Dies zu vermitteln, ob wenigen oder vielen, bleibt immer lohnend, auch als
sich stets wiederholender Versuch.