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nmz-archiv
nmz 2001/09 | Seite 51
50. Jahrgang | September
Dossier: Musikkritik
Die einzige Kritik an der Kunst ist Kunst
Notizen zur Musikkritik und Glückwünsche von Wolfgang Rihm
1. Zuerst: Gerhard Rohde meine herzlichen Glückwünsche und besten Wünsche zum 70. Geburtstag!
Habe ihn für jünger gehalten. Vor Jahren, beim ersten Bemerken: mit Michael Caine verwechselt. Im
Folgenden bezieht sich auf Rohde nur das Positive.
2. Musikkritik steht und fällt mit der Begabung des Kritikers zur Unterscheidung. Leider zerstören
viele Kritiker diese Begabung oder deren Ansätze und Reste durch eine Neigung zum Urteil und zwar
zu einem Urteil, das nicht auf ihrer Befähigung zur Unterscheidung beruht. Mein Rat (ich gebe ihn auch
Künstlern): viel kennen zu lernen, zu vergleichen. Ganz ohne Hast.
Wolfgang Rihm. Foto: Charlotte Oswald
3. Für junge Künstler ist die Etikettierung oft nein: immer von größtem
Übel. Man erkennt den meisterlichen Kritiker darin, dass er Etikettierungen vermeidet. Er berichtet über
das Wahrgenommene, lässt es aber zur Wahrnehmung anderer hin offen. Die Schärfe seiner Beobachtung
nimmt zu, je erkennbarer die Gegenstände der Beobachtung selbst werden. Dazu bedarf es der Einlassung.
Diese braucht Technik, Wissen, Übung. Kritik muss man studieren.
4. Einige wenige Kritiker können es sich leisten ich zu sagen. Sie müssen nicht mehr
Schutz suchen hinter einer Mauer aus man und es ist so. Ihnen sind die Fragen der Kunst
plötzlich im eigenen Sein begegnet und sie fühlen ihre Nacktheit: den großen Kritiker-Begabungen
wächst dadurch etwas zu, das ich als Gnade der Kompetenz versuche zu umschreiben. Ihnen kann
nichts vorgemacht werden. Also müssen auch sie nichts mehr vormachen.
5. Kritik ist wichtig. Jeder Künstler lernt aus jeder Kritik. Auch aus der, die vom Ressentiment diktiert
ist, das vor Angst, Wut und Häme zittert. Ich erfahre viel über mich selbst im Umgang mit negativer
Energie: Wie viel halte ich aus? Wo kann ich helfen? Wo muss ich eine Position überdenken, um ihre Beweggründe
wirklich zu verstehen? All das belehrt und stärkt und verschafft mir als Künstler Übung im Unterscheiden.
6. Antwort auf Kritik ist nur möglich durch das Werk. Ich rate bereits jedem Studenten ab, auf Kritik
anders als durch sein Werk zu reagieren. Entgegnungen treffen kein Gegenüber an.
7. Kritik braucht Kritik. Kritiker (die begabten, also: guten) sind einsame Wesen, denen die Echolosigkeit
schwer zu schaffen macht. Sie selbst fungieren als Echo von uns Künstlern, bleiben ihrerseits aber unbeechot.
Deshalb ist es für sie wichtig, die Antworten ausfindig zu machen, die ihre Kritik in den Werken der Kritisierten
ausgelöst haben. Es entsteht geheimer Dialog, der nach außen hin meist verleugnet wird: Künstler:
Ich lese nie Kritiken! Kritiker: Dieser Künstler interessiert mich nicht!.
Hinterlässt eine Kritik keine Spur im Werk des Kritisierten, ist dies schärfste Form einer Kritik
an der Kritik. Dies lesen zu können, will gelernt sein.
8. Die Bedeutung der Kritik als Multiplikator ist sehr hoch. Am höchsten dann, wenn kritische Positionen
untereinander im Wettstreit liegen. Aber auch das Verschweigen hat enorm multiplizierende Kraft: Wird über
eine Aufführung nicht berichtet, löst dies sofort den Fragenkomplex aus: Wa- rum berichtet dieser
Kritiker nicht über jenes Werk, wem glaubt er damit nützen zu können, wem will er schaden? Dum
tacet, clamat. Das wirkt.
9. Manche Kritiker positionieren sich selbst in Richtungen, Tendenzen, Moden. Das ist sehr unvorteilhaft für
die Rezeption ihrer Gedanken. Denn die Mehrheit der Leser wird auf den Namen des Kritikers mit einem Ach
so, dann wissen wir ja, was in der Kritik steht reagieren und weiterblättern. Daher mein Rat: unberechenbar
bleiben. Durch plötzliche Qualitäten schockieren.
10. Das fruchtbare Verhältnis von Kritik und Kunst kommt nur in der Kunst zur Blüte. Die Kritik
bleibt im Dunkel. Das ist sicher etwas ungerecht, aber es ist nicht anders möglich. Deshalb an dieser Stelle
mein Dank an alle meine Kritiker (und auch Kritikerinnen). Sie alle haben dazu beigetragen, dass ich meine Begabung
immer wieder in Werke zuspitzen durfte, die von ihnen, den Kritikern, entweder begeistert beschwiegen, abgelehnt
oder begrüßt wurden. Ich habe an jeder Bemerkung etwas gelernt, aus allen Anmerkungen ist mir Energie
und erneute Anregung zugeströmt, die ich wieder fruchtbar werden lassen konnte. Besonders bewegt bin ich
allerdings, wenn ich bemerke, dass eine Kritik abgefasst wurde in der Hoffnung, ich möge sie lesen.
Ich bemerke das an einer gewissen Gehobenheit und gesteigerter Genauigkeit des Stils, auch an einer erfindungsreicheren
Anspielungstechnik, präziserer Wortwahl, sauberer Gedankenführung und so weiter. Dann weiß ich:
Hier wurde für mich geschrieben. Das ehrt natürlich ungemein, nimmt aber auch in die Pflicht. Niveau
will gehalten sein.
11. Die einzige Form von Kritik an Kunst ist Kunst.