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nmz-archiv
nmz 2001/09 | Seite 15
50. Jahrgang | September
Initiative
Konzerte für Kinder
Intensive Ansprache und Beteiligung aller
Ein Projekt der Universität Bielefeld bringt Konzerte für Kinder in die Grundschule
In der Zeit zwischen Oktober 1999 und Februar 2000 fanden an der Bültmannshof-Schule (Grundschule) in
Bielefeld fünf Werkstatt-Konzerte statt. Diese wurden bestritten von kleinen Instrumentalformationen
des Philharmonischen Orchesters der Stadt Bielefeld. Die Vorbereitung und Moderation lag in den Händen
einer studentischen Arbeitsgruppe unter der Leitung von Heinz-Jürgen Bräuer, Professor an der Universität
Bielefeld. In Absprache mit der Schulleitung und dem Kollegium der Schule war eine zweite Klasse mit 17 Kindern
für dieses Projekt ausgewählt worden. Die live präsentierte Musik Schwerpunkt war die
Musik des 20. Jahrhunderts wurde im weiterführenden Unterricht mittels Tonträger vertieft.
Die Kinder bekamen auf ihren Wunsch im Anschluss an das Projekt die vorgestellte Musik auf CD oder MC. Im begleitenden
Seminar an der Universität wurden die Ergebnisse der einzelnen Konzerte ausgewertet, die anstehenden
vorbereitet und grundsätzliche (rezeptions-)didaktische Fragestellungen bearbeitet.
Was unterscheidet nun das Bielefelder Projekt von anderen Formen von Konzerten für Kinder? Zum einen sind
Aufführungsort und Lernort der Kinder identisch und das Zeitbudget der Kinder, auch von Lehrern und Eltern,
wird nicht weiter belastet (Stichwort: Verplante Kindheit). Die insbesondere bei Familienkonzerten zu beobachtende
soziale und interessengeleitete Zusammensetzung der Besucher wird vermieden: Die Musik kommt in die Schule und
(be-)trifft alle Kinder (einer Klasse). Schließlich steht der in der Regel einmaligen Aufführung
im Rahmen eines Kinder-Familienkonzerts eine Kontinuität der Darbietungen gegenüber, die den Aufbau
intensiver Erfahrungen verbunden mit fachlichem Lernzuwachs ermöglicht.
Anliegen des Projektes
Zunächst und vorrangig ging es darum, Kindern Musik zu präsentieren, die ihnen erwartungsgemäß
eher fremd ist. Dabei sollte die Fremdheit dieser Musik überspielt werden durch die Unmittelbarkeit der
Darbietung unter Ausnutzung aller Möglichkeiten der Live-Performance, das heißt die Musikausübung
wurde eingebettet in einen sozialen Kontext. Im engen Kontakt zwischen Kindern und Musikern unter Anleitung
des Projektleiters sollten die Kinder einen direkten, authentischen Einblick in den Herstellungsprozess von
Musik bekommen.
Misst man den Erfolg dieser Bemühungen an den Reaktionen der Schülerinnen und Schüler, dann
lässt sich mit aller gebotenen Zurückhaltung feststellen, dass die Ungewohnheit, ja Fremdheit der
dargebotenen Musik zu keinen Missfallenskundgebungen Anlass gegeben hat. Zwei Erklärungen lassen sich dafür
heranziehen: Zum einen die Möglichkeit der Kommunikation zwischen den Kindern und den leibhaftig anwesenden
Musikern, zum anderen das Angebot vielfältiger Umgangsweisen mit Musik. Nachfolgend sollen weitere Zielsetzungen
aus drei unterschiedlichen Perspektiven skizziert werden.
Institution Schule
Im Zuge einer Neubewertung des Auftrags der Schule (Stichwort Haus des Lernens) hat die Landesregierung
Nordrhein-Westfalen ein Programm aufgelegt, das die Schulen auffordert, ein individuelles Profil in Zusammenarbeit
mit außerschulischen Partnern/Institutionen zu entwickeln (GÖS-Programm vom 20.3.1996). Unter der
Perspektive der Beziehung zwischen Musikpädagogik und Musikleben wobei bis in die jüngste Zeit
eher von einer Nicht-Beziehung zu reden wäre, insbesondere was die musikpädagogische Arbeit in der
Grundschule betrifft zeichnen sich Tendenzen ab, die in das Konzept einer Öffnung von Schule, aber
auch einer Öffnung gesellschaftlicher, in diesem Fall kultureller Institutionen passen.
Das Projekt wollte einen Treffpunkt schaffen, an dem sich Musik, Musiker und Hörer begegnen
können. Dazu kommt die Musik in die Schule. Diese Begegnung hat dann, so ist zu hoffen, Auswirkungen
auf das musikkulturelle Handeln der heranwachsenden Kinder, zum Beispiel indem diese ein Instrument lernen oder
am öffentlichen Musikleben teilnehmen.
Es ist in der Zwischenzeit eine Binsenwahrheit, dass der Musikunterricht an den Grundschulen trotz (oder wegen?)
der Schönwetterreden an einem hohen Mangel an Fachkräften leidet. Über die vielfältigen
Ursachen dieses Zustandes soll hier nicht räsoniert werden. Auf jeden Fall bleibt festzuhalten, dass der
Auftrag der Grundschule, eine grundlegende Bildung zu vermitteln, im Bereich der Musik nicht eingelöst
wird. Zu überlegen wird sein, ob im Rahmen einer Fortsetzung und Erweiterung des Projektes die Schule als
Anlaufstelle für Lehrer/-innen-Fortbildung eingerichtet werden könnte.
Fachdidaktik
Ergänzend zu den einleitenden Anmerkungen seien nachfolgend zwei weitere für die Arbeit wichtige
didaktische Gesichtspunkte genannt. Das Projekt möchte erstens Konsequenzen aus der (musik-)psychologischen
Erkenntnis ziehen, dass Kinder im Übrigen auch Erwachsene mehr verstehen, als sie praktisch
ausführen können. Auf die Musik und den Umgang mit ihr bezogen: Der Zugang zur Musik, ihrer Botschaft
und Ausdrucksmächtigkeit ist nicht an das in der Regel geringe Niveau reproduzierender Fähigkeiten
gebunden.
Zweitens kann live vermittelte Musik Motivation und Effizienz des Musikunterrichts entscheidend erhöhen.
Sie bietet die durch nichts zu ersetzende Chance, Musik als Mach-Werk wahrzunehmen, in das der kindliche
Hörer fragend eingreifen und sich mit ihm handelnd (körperlich, bildlich, sprachlich) auseinander
setzen kann. Zu den musikalischen beziehungsweise musikinspirierten Tätigkeiten im Projekt gehören
etwa: bewegen, tanzen, Namen erfinden, Notationen der Musik zuordnen, singen oder Instrumente ausprobieren.
Die Darbietungsform der Live-Performance lebt von der Unmittelbarkeit durch die nur ihr mögliche Kommunikation
zwischen Interpret und Hörer. Das normalerweise nur als unveränderbares, abgeschlossenes Werk
zu hörende Musikstück kann in seinem Entstehen verfolgt, zeitlich auseinander liegende Phasen können
unmittelbar gegenübergestellt werden; Tempo, Dynamik, Ausdruck, Artikulation sind veränderbar und
in ihren Wirkungen zu erleben: Live-Performance als interaktives Konzept!
Kulturinstitutionen
Jüngste Untersuchungen haben gezeigt, dass der Musikkonsum der bundesrepublikanischen Bevölkerung
nur zu etwa einem Prozent durch den Besuch von Live-Konzerten befriedigt wird. Die öffentlich subventionierten
Orchester tun gut daran, sich verstärkt darauf einzustellen, dass die Kinder von heute das Publikum von
morgen sind. Das bedeutet, sich dieser Hörerschichten anzunehmen und dazu neue Hörorte (Treffpunkte)
zu schaffen.
Projektbewertung
Wie wurde das Projekt aus der Sicht der unmittelbar und mittelbar Beteiligten gesehen und bewertet? Aus den
Ergebnissen der wissenschaftlichen Auswertung durch Dr. Palentien (Fakultät für Pädagogik der
Universität Bielefeld) seien folgende genannt:
Was die Auswirkung des Projekts auf die Motivation, ein Instrument zu erlernen, betrifft, äußerten
von zwölf Kindern, die kein Instrument spielen, sieben Kinder den Wunsch, ein Instrument zu erlernen. Aus
einer Skala von Umgangsweisen beziehungsweise Tätigkeiten im Prozess der Musikaneignung ergaben sich folgende
Bewertungen: Bevorzugt wurden von den vorgegebenen Tätigkeiten (gestuft nach liebster, zweitliebster
und drittliebster Tätigkeit): Stillsitzen und hören, bewegen, singen
und Instrument ausprobieren. Überraschend war, dass Stillsitzen und hören
bei liebster beziehungsweise zweitliebster Tätigkeit ganz vorne stand. Alle Kinder
wünschten eine Fortsetzung des Projekts.
Von der Wichtigkeit überzeugt, Kinder mit klassischer Musik in Kontakt zu bringen, stand
die Klassenlehrerin, gleichzeitig Konrektorin der Schule, als fachfremd unterrichtende Lehrkraft dem Projekt
sehr aufgeschlossen gegenüber und fing im Verlauf der Arbeit richtig Feuer. Sie
arbeitete nach der Live-Präsentation an der Vermittlung der Musik mittels Tonträger weiter, ließ
die Kinder Texte und Bilder anfertigen.
Im begleitenden Seminar an der Hochschule wurden grundsätzliche didaktische und rezeptionspsychologische
Fragen in einer studentischen Arbeitsgruppe behandelt. Dies kam allerdings etwas zu kurz, weil die von den Musikern
und Musikerinnen angebotenen Stücke in den Veranstaltungen analysiert und auf ihre didaktischen Vermittlungsqualitäten
hin befragt wurden. Die von Prof. Bräuer und Studierenden moderierten Unterrichtsstunden wurden reflektiert.
Die Ergebnisse dieser Reflexion flossen in die Planung des weiteren Unterrichts ein. Die Studierenden schätzten
die enge Verzahnung von Theorie und Praxis. Sie bekamen Anregungen für eine Übertragung
dieses musikpädagogischen Modells.
In einem Vorgespräch wurden die beteiligten Mitglieder des Philharmonischen Orchesters über Intention
und Konzeption des Projekts informiert. Der Problematik einer Bestimmung des musikalisch Kindgemäßen
bewusst, hatten die Musiker/-innen freie Hand bei der Auswahl der Stücke. Musik des 20. Jahrhunderts sollte
aber auf jeden Fall angemessen vertreten sein.
Das Programm umfasste folgende Werke und Besetzungen: Jiri Dvoraceks Miniature IV, Johannes Brahms
Choral Es ist das Heil uns kommen her in einem Arrangement von L. Waldeck und ein Scherzo von John
Cheetham (Blechbläserquintett); die Sonate für Horn und Harfe op. 94 von Jan Koetsier (1. und 2. Satz);
das Quartett für vier Violinen von Grazyna Bacewicz (1. Satz) sowie Charles Danclas Variationen über
Mein Hut, der hat drei Ecken für dieselbe Besetzung; Antonin Dvoráks Streichquartett
F-Dur, op. 96, (2. Satz) und Joseph Haydns Streichquartett op. 33, Nr. 3 (4. Satz); Sechs Bagatellen für
Bläserquintett von György Ligeti (Nr. 1 und 3).
Aus einer informellen Umfrage ergaben sich unter anderem folgende Ergebnisse: Die beteiligten Musiker/-innen
stimmten überwiegend dem Konzept der Werkstattkonzerte zu, äußerten allerdings Bedenken gegenüber
der Auswahl der Musik. Eine Moderation hielten sie für notwendig.
Dem Wunsch der Projektleitung entsprechend wurde die Live-Darbietung nur in einer Klasse durchgeführt
(Vermeidung einer distanzierenden Konzert-Atmosphäre, intensive Ansprache und Beteiligung aller
Kinder), obwohl die Schulleitung die Bevorzugung einer Klasse einer mehrzügigen Jahrgangsstufe mit den
möglichen Folgen von Einsprüchen seitens des Kollegiums und der Eltern zu bedenken gab. Es wurde vereinbart,
bei der geplanten Fortsetzung der Arbeit alle Klassen einer Jahrgangsstufe einzubeziehen.
Umfeld
Als flankierende Maßnahme wurde gegen Ende des Projekts ein Elternabend veranstaltet, bei dem die Klassenpflegschaft
grundsätzlich informiert, ein Video-Ausschnitt aus einer Unterrichtsstunde vorgestellt und im Unterricht
präsentierte Musik zu Gehör gebracht wurde. Die anwesenden Eltern reagierten positiv. Eine Bücherausstellung
in Zusammenarbeit mit einer örtlichen Buchhandlung bot Gelegenheit, sich über Literatur für Kinder
zu informieren und auch zu erwerben. Angeboten wurden illustrierte Sachbücher (zum Teil mit CD) zu Themen
wie: Erlernen eines Instrumentes, Konzert-/Opernbesuch oder Komponistenporträts.
Der Verein der Theater- und Konzertfreunde Bielefeld war dankenswerterweise dazu bereit, die Honorarkosten der
Musiker/-innen zu übernehmen. Über seine weitere finanzielle Beteiligung ist derzeit noch nicht entschieden.
Die Intendantin und der Generalmusikdirektor der Bielefelder Bühnen standen dem Projekt wohlwollend gegenüber,
sahen aber keine Möglichkeit, es finanziell mitzutragen oder diese Arbeit gar im Rahmen der Dienste des
Orchesters durchführen zu lassen (asymmetrisches Verhältnis von Kosten und kleiner Zielgruppe). Ein
öffentlich subventioniertes Orchester, das auf der Suche nach neuen Hörerschichten und Spielorten
ist, sollte nicht aus dem Auge verlieren, dass Kinder und Jugendliche das Konzertpublikum von morgen sind. Dem
stimmten auch nach der schon erwähnten informellen Umfrage die beteiligten Musiker/-innen zu.
Ausblick
Das Projekt, für das in der Zwischenzeit mit der Firma Miele (Gütersloh) und dem Unternehmerverband
der Metallindustrie Bielefeld weitere Sponsoren gefunden werden konnten, soll im Wintersemester 2000/2001 weitergeführt
und in zwei Richtungen erweitert werden:
Quantitative Erweiterung: Nicht nur eine Klasse, sondern alle Klassen einer Jahrgangsstufe sollen von dem
Live-Musik-Angebot profitieren.
Qualitative Erweiterung: Das Spektrum der dargebotenen Musik soll ausgedehnt werden. Es wird versucht,
aus der örtlichen Musikszene professionelle beziehungsweise semiprofessionelle Ensembles
zu gewinnen, die neben dem klassischen Angebot Musik anderer Kulturen und Völker ins Spiel
bringen sollen (Irish Folk Music, türkische Musik, Jazz). Damit soll über die Musik ein Beitrag
zur interkulturellen Erziehung geleistet werden.