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nmz-archiv
nmz 2001/09 | Seite 12/40
50. Jahrgang | September
Kulturpolitik
Musik lingua franca der europäischen Nationalstaaten
Die EU-Kommission braucht dringend ein Förderprogramm für kulturelle Jugendbildung · Von
Helmut Brinkmann
Im EG-Vertrag von Amsterdam in der Fassung vom 2. Oktober 1997 sind der Förderung des Jugendaustauschs
eineinhalb Zeilen gewidmet, der Vertrag von Nizza hat da keine Änderung gebracht. Was die EU-Kommission
daraus gemacht hat, ist mehr als beachtlich: In dem bis zum Jahre 2006 laufenden Programm Jugend
werden immerhin 520 Millionen Euro als Fördermittel zur Verfügung gestellt; darin enthalten sind die
Mittel für die Nationalagenturen, über die die Fördermittel vergeben werden.
Das EU-Parlament hatte mehr als 900 Millionen Euro gefordert, die EU-Kommission sel- ber mehr als 700 Millionen,
die nationalen Finanzminister ließen sich aber nicht mehr abringen als die besagten 520 Millionen. Immerhin
ist das Programm so attraktiv, dass die Beitrittsländer alle Anstrengungen unternehmen, um den Beitrag
zu zahlen, der sie berechtigt, an den Programmmitteln zu partizipieren. Hier erscheint der Hinweis notwendig,
dass dieser Beitrag von seiner Höhe her nicht selten den gesamten Etat einzelner Beitrittsländer für
ihre internationale Jugendarbeit auffrisst.
Mit anderen Worten: das Programm ist beliebt, der politische Wille zu seinem Ausbau ist vorhanden, und überdies
hat das Deutsche Büro Jugend für Europa als Nationalagentur einen guten Ruf. Also alles
bestens. Oder doch nicht?
Es würde an dieser Stelle zu weit führen, das Programm in allen seinen Facetten ausführlich
darzustellen; hier mag der Hinweis genügen, dass in der Aktion 1 bi-,tri- und multilaterale
Jugendbegegnungen und in der Aktion 2 die Europäischen Freiwilligendienste gefördert werden,
während die Fachkräfte der internationalen Jugendarbeit für unterstützende Maßnahmen
in Bezug auf die Aktion 1 aus der Aktion 5 finanzielle Hilfe erfahren können.
Das klingt alles recht vernünftig und durchdacht ist es sicherlich auch , geht aber völlig
an der kulturellen Jugendbildung vorbei, zumindest an der deutschen Szene, die so konstruiert ist, dass sie
die Förderbedingungen einfach nicht erfüllen kann. Darüber kann auch eine Statis- tik nicht hinwegtäuschen,
die in der Aktion 1 eine Förderung der kulturellen Jugendbildung von mehr als 20 Prozent ausweist.
Hier handelt es sich in der Regel um homogene lokale Jugendgruppen, die sich bei ihren internationalen Treffen
der Mittel und Methoden der kulturellen Jugendbildung bedienen, eine sehr zu begrüßende Entwicklung,
denn dafür bietet die kulturelle Jugendbildung ja zu einem guten Teil ihre Fortbildungsseminare an,
nur hat das mit dem Kern der kulturellen Jugendbildung, der in Deutschland jährlich mehr als zwölf
Millionen Kinder und Jugendliche anzieht, nichts zu tun; denn hier kommen in aller Regel heterogene Gruppen
zusammen, die im gemeinsamen Streben nach künstlerischem Ausdruck in einer Weise zueinander finden, die
die Begegnung zum prägenden Erlebnis macht und damit Bildung vermittelt.
Auch die für die Jugendkulturszene typischen Großveranstaltungen kommen für eine Förderung
aus EU-Mitteln nicht in Betracht, weil die Teilnehmerzahl auf 60 begrenzt ist (Chor aus dem einen Land trifft
Orchester aus anderem Land ist schon nicht mehr drin). Wettbewerbe gar, die ja den zusätzlichen Sinn hätten,
ein Findungsinstrument für auf demselben Niveau agierende Gruppen in Europa zu sein, sind gänzlich
verpönt.
Die Gründe hierfür liegen in der his- torischen Entwicklung der Jugendarbeit in Deutschland und
in Europa. Spätestens seit 1968 hat sich die Jugendverbandsarbeit in der Bundesrepublik die politische
Jugendbildung auf die Fahnen geschrieben, und zwar mit einer fast radikalen Ausschließlichkeit. Das brachte
für die Protagonisten unter anderem den Vorteil, dass sie an der europäischen Entwicklung erheblich
früher und intensiver Anteil hatten als die Vertreter anderer Bereiche der außerschulischen Jugendbildung.
Durch ihren europäischen Zusammenschluss in Cenic waren sie früh ein respektabler und
respektierter Gesprächspartner der EU-Kommission; sie sind es bis heute geblieben,denn der Kern des Europäischen
Jugendforums, das die EU-Kommission bei der Ausgestaltung ihrer Jugendpolitik und - förderung berät,
ist eben Cenic.
Europäische Analogie
Damit vollzieht sich auf der europäischen Ebene genau dieselbe Entwicklung, die es zuvor beim Kinder-
und Jugendplan des Bundes zu beobachten gab. Auch hier ist man bei der Entwicklung der Förderrichtlinien
von den Bedürfnissen der Jugendverbandsarbeit ausgegangen, der Ausbau der kulturellen Bildung musste über
die Inanspruchnahme von Ausnahmeregelungen erkämpft werden.
Gewiss, im Europäischen Jugendforum sitzen auch Vertreter von Organisationen der kulturellen Jugendbildung;
sie sind aber so in der Minderheit, dass Abstimmungen für sie sehr häufig zu Frustrationserlebnissen
führen. Das Kräfteverhältnis im Europäischen Jugendforum zeigt, dass die Unterbewertung
der kulturellen Jugendbildung kein deutsches Problem ist, auch wenn es hier aufgrund der quantitativen Diskrepanzen
besonders ins Auge sticht. Es wäre auch nicht sehr überzeugend, wenn eine Änderung der EU-Förderpolitik
allein auf den quantitativen Aspekt gestützt werden müsste. Vielmehr muss die Frage gestellt werden,
ob die derzeitige Förderpraxis den Zielen der europäischen Jugendpolitik gerecht wird. Oberstes politisches
Ziel ist die Herstellung eines europäischen Bewusstseins bei jungen Menschen. Hiermit wird begründet,
dass die Förderung der EU-Kommission die Förderung der Mitgliedsstaaten ergänzt, aber nicht ersetzt
(weshalb dann die bilateralen Programme zwischen den Mitgliedsstaaten so stark zurückgehen, darf hinterfragt
werden).
Kultur als lingua franca
Ein europäisches Bewusstsein war vor dem Aufkommen der Nationalstaaten in Europa durchaus existent, die
lateinische Sprache war die lingua franca, die dieses Bewusstsein transportierte, allerdings mit dem Nachteil,
dass nur die höheren Schichten daran teilhatten. Die EU-Kommission war sich dieses Tatbestands vielleicht
sehr bewusst, als sie entschied, dass vor allem lokale Gruppen, darunter zu einem Drittel Jugendliche mit erschwertem
Zugang zur internationalen Begegnung, in den Genuss der europäischen Fördermittel kommen sollen. Wenn
es im heutigen Europa eine lingua franca gibt, ist es die Kultur, vornehmlich die Musik. Die englische Sprache
kann und will es nicht sein, unsere benachbarten Inselbewohner sind inzwischen eher entsetzt, was auf dem Kontinent
mit ihrer Sprache geschieht und das in Deutschland erschreckend weit verbreitete Denglisch
führt mehr zur Verwirrung als zur Verständigung. Und wenn die Vielfalt die Attraktivität Europas
ausmachen soll, fällt das Augenmerk wie von selbst auf die Kultur. Ansonsten macht die Gleichmacherei große
Fortschritte: den Tanz ums Goldene Kalb machen alle mit, die Wirtschafts-Multis lassen die Städte einander
immer ähnlicher werden, auch die Kleidung, also die Selbstinszenierung der Menschen, wird uniformer, die
Nahrung schmeckt immer ähnlicher, kurz, die Lebensumstände der Einzelnen sind inzwischen einander
so angenähert wie der Sozialismus es sich aus ideologischen Gründen immer erträumt hat.
Bleiben als wesentliche Unterscheidungsmerkmale, was an Natur und Klima noch nicht verändert werden konnte,
und eben die Kultur als bewusst gepflegte Eigenheit. Es liegt im ureigensten Interesse Europas, seine Attraktivität
zu pflegen und die Hinwendung junger Menschen zur Kultur für seine Zwecke zu nutzen. Ein europäisches
Bewusstsein, das auf die Bewusstheit von Vielfalt gegründet ist, bleibt lebendig, bleibt auch offen für
neue Entwicklungen und setzt damit geistige Kräfte frei, die ein Abschotten Europas gegenüber den
anderen Kontinenten verhindern.
Dass Europa als politisches Gebilde von der Jugend immer weniger wahrgenommen wird, ist eine beklagenswerte
Tatsache, die nicht nur an der Wahlbeteiligung zum Europäischen Parlament, sondern auch anhand von Jugendstudien
( z.B. Shell-Studie) festzustellen ist. Wie soll hier nachhaltig Besserung eintreten, wenn die europäische
Jugendförderung an der größten Gruppe der Jugendlichen, die über die kulturelle Jugendbildung
erreicht wird, völlig vorbeigeht?
Fazit
Die kulturelle Jugendbildung ist für ein lebensfähiges Europa ein unverzichtbarer Baustein. Das
Umsetzen dieser Erkenntnis in die Praxis der europäischen Jugendpolitik bedarf großer
Behutsamkeit. Ein Vorpreschen von deutscher Seite würde den Vorwurf der Germanozentrik provozieren, womit
das Anliegen verniedlicht würde, aber auch eine adäquate Wahrnehmung des Problems verhindert würde.
Andererseits sollte vermieden werden, bei den derzeit Geförderten Verlustängste zu schüren, was
schon deshalb nicht zu rechtfertigen wäre, weil die bereitgestellten Fördermittel ja auch wirklich
abgerufen, also auch benötigt werden.
Eine Ausweitung des bestehenden Förderprogramms Jugend erscheint nicht sinnvoll im Hinblick
auf die dann notwendige Ausweitung von Förderbestimmungen, die das Programm in seiner Gesamtheit unerträglich
verbürokratisieren würde.
Bleibt als sinnvolle Möglichkeit die Installation eines eigenen EU-Förderprogramms für kulturelle
Jugendbildung. Um das zu erreichen, müsste zwischen den Trägern auf der nationalen Ebene ein gemeinsames
Vorgehen abgesprochen werden, besser noch, bereits bestehende europäische Zusammenschlüsse genutzt
werden, um die in Brüssel erforderliche Lobbyarbeit zu leisten. Um zu dieser Zusammenarbeit zwischen den
Trägern auf europäischer Ebene zu kommen, könnten zwei Wege hilfreich sein: zum einen eine finanzielle
Unterstützung auf der jeweils nationalen Ebene aus den durch Verlagerung in das europäische Programm
eingesparten Mitteln (siehe oben), zum anderen durch Nutzung der Aktion 2 des EU-Programms Jugend,
indem die Träger im Rahmen des Europäischen Freiwilligendienstes Freiwillige aus kulturellen Organisationen
anderer europäischer Länder bei sich aufnehmen und eigene Mitarbeiter in gleicher Weise ins europäische
Ausland entsenden. Um Freiwillige bei sich aufnehmen zu können, muss eine Organisation als Aufnahmestelle
von Brüssel anerkannt sein; um diese Anerkennung zu erhalten, bedarf es einer Interessensbekundung gegenüber
der EU-Kommission, deren Bestätigung noch keinen verpflichtenden Charakter hinsichtlich einer tatsächlichen
Aufnahme eines Freiwilligen hat. Für solche Interessensbekundungen kämen in Deutschland nahezu alle
Geschäftsstellen auf der bundes- und der Länderebene in Betracht, die Akademien, Hunderte von Musikschulen,
Jugendkunstschulen et cetera. Allein diese Interessensbekundungen wären eine überzeugende Demonstration
des Potenzials, das die EU-Kommission derzeit noch außer Acht lässt. Der Kommission sollte geholfen
werden können.