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nmz-archiv
nmz 2001/09 | Seite 39
50. Jahrgang | September
Jazz, Rock, Pop
Ich seh Zwerge lange Schatten werfen
Weltschmerz für Globalisierungsgegner: Blumfelds Testament der Angst
Blumfeld, Deutschlands führende Marke für Weltschmerz und Revolte, kann, wovon andere Konzerne bloß
träumen: jedem solange den Kopf verdrehen, bis er nur noch eines will mehr von diesem Stoff. Die
neue musikzeitung dreht das Album auf volle Lautstärke, sucht noch nach den leisesten Zwischentönen
in Großfeuilleton-Elogen und WG-Wohnküchen-Bekenntnissen und prüft die Gründe für
den durchschlagenden Erfolg der Schlechtgelaunten.
Jochen Distelmeyer ist der lebende Widerspruch. Nicht nur im Titelsong seines neuesten Albums, wo er seinen
frei flottierenden Existenz-Horror zur paradoxen Litanei und zum Vermächtnis für jedermann gerinnen
lässt: Ich hab Angst vor Morgen/ich hab Angst vor Heute/ich hab Angst vor Gestern da
bleibt nicht viel übrig. Ein wenig später heißt es dann: Ich hab Angst vorm Alleinsein/Angst
vor anderen Leuten. Das Credo eines Mannes, der mit nichts und niemandem einverstanden ist, auch mit sich
selbst nicht und den doch (fast) alle zu lieben scheinen.
Distelmeyer kann gegen die Diktatur der Angepassten wüten und das Ganze bei Rock
am Ring vortragen. Er kann mit der Attitüde eines alt gewordenen Polit-Punk Medien, Märkte,
Merchandise dissen und trotzig bekennen: Ich will nicht in eurer Logik leben
das hindert die Frankfurter Allgemeine nicht, die Präsentation seines Albums zum Feuilleton-Aufmacher
zu promovieren und Distelmeyer eine Diagnose für die Ewigkeit zu stellen: dass er nämlich die
deutschsprachige Rockmusik ausgerechnet aus dem Geist der Romantik erneuert habe.
Blumfeld: der Weltgeist als Feedback-Orgie und Kitsch-Refrain, der seine Anhänger genauso im Globalisierungsgegner-Camp
wie bei feierabendlich gestimmten Germanistentag-Besuchern findet. Distelmeyer, der als virtuoser Verseschmied
den Versatzstück-Bodensatz geschundener Medien-User-Hirne und enttäuschter Beziehungs-Seelen so suggestiv
recyclet und montiert, dass aus Zitat-Fetzen von Hegel bis Hänschen klein, von Luhmann bis Liebesgeflüster
neuer Big Sinn entsteht.
Distelmeyers Lyrik ist die Flex fürs Hirn. Sie schneidet tief und sauber und präpariert Sinn-Schichten
heraus, von denen man nicht vermutet hätte, dass es sie überhaupt gibt. Opportunismus kann man ihm
nicht unterstellen; eher schon ist er der unbestrittene Meisterdenker der Multi-Referenzialität. Konnte
man ihm früher, zu Zeiten von Ich-Maschine und LÉtat et Moi, noch
unterstellen, dass er Hochkultur so lange dehydriere, bis sie sich nur noch als Astronautennahrung für
all die eignet, die die Welt gern von weit, weit oben betrachten, so scheut er spätestens seit Old
Nobody (1999) auch nicht vor tränenseligsten Schlagerträumen zurück. Aus Benn ist Benny
geworden, oder ein Bert, der seine Cindy sucht halb zumindest, denn die vertrackte Poesie aus dem (Un-)Geist
von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, schleicht sich auch im Testament der Angst entschieden
zwischen Herz und Schmerz. Ihr habt Euch selber aufgegeben, das versteht jeder, aber es geht ja
weiter: für Geld, Gestell und Genotyp, um das bis in die letzte Mem-Sequenz zu
entziffern, sollte man schon am besten die neo-liberalen Dogmen enthemmter Milton-Friedman-Schüler, das
technikkritische Spätwerk Martin Heideggers und die im FAZ-Feuilleton versammelten Thesen der Bio- und
Nano-Technologie-Freaks kennen.
Freilich: Distelmeyer achtet darauf, dass er genügend Diskussionsstoff für WG-Wohnküchen-dark
hours bietet und doch keinen überfordert oder alleine lässt. Und er hat ein Gespür für
die Never-ending-Adoleszenz-Schmerzen. Wofür Sartre einst 1.200 Seiten brauchte, also die Existenzialisten-Hits
von Faktizität (Geworfenheit) bis Fröste der Freiheit, das samplet
Distelmeyer in zwei Vers-Zeilen: Wir kommen ungefragt/und gehen ungefragt und freut sich jetzt schon
diebisch, wenn dereinst vielleicht im privatisierten Format-Radio eine Single mit dem Titel Eintragung
ins Nichts angesagt werden muss. So unwahrscheinlich ist das nicht: Old Nobody hat es immerhin
schon unter die Top Twenty der Album-Charts geschafft.
Ein Erfolgsgeheimnis Distelmeyers wurde bisher vielleicht zu wenig beachtet: dass er es nämlich schafft,
das, was sonst nur peinlich ist, so mit kleinen dialektischen Widerhaken auszustatten und so elegant vorzutragen,
dass auch Mr. Cool sich wieder beschweren und seinen Hypochondrien frönen kann: der Schmerz
sagt ich/der Körper schlägt Alarm/und macht von sich reden.
Freilich: Distelmeyer ist kein slam-poetry-Maestro, auch wenn er sich nicht scheut, sein Publikum
schier endlosen talking cure-Exzessen zu unterziehen, sondern ein Musiker, dessen Sprödheit
plötzlich sehr sexy wird, wenn sie vor einer treibenden Gitarrenfront in Bewegung kommt. Blumfeld sind
eine Band!, das ist mehr als nur ein politisch korrektes Statement; selbst der größte Distelmeyer-Skeptiker
wird sich dem treibenden Sound nicht entziehen können; nur dass es jetzt eben auch watteweiche, warme Keyboard-Klänge
gibt, die von love, devotion, surrender künden, mit der Gitarrenhärte bestens koexis-
tieren und ein weiteres Blumfeld-Paradox verkörpern: dass sich nämlich Hingabe und hinhaltender Widerstand
nicht ausschließen müssen.
Die Blumfeld-Probe aufs Exempel ist das Konzert. Wer beim Studium der Alben einen Bruch zwischen Punk und
Pop herauszuhören meint, der kann live das Wunder lebensgeschichtlicher Kontinuität miterleben. Distelmeyer
als Wilhelm Meister des MTV-Zeitalters, der sein eigenes Leben als Bildungsroman (für alle!) weiterschreibt.