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nmz-archiv
nmz 2001/09 | Seite 38
50. Jahrgang | September
Jazz, Rock, Pop
Die Musik spielte immer die erste Geige
Zum Tode des Saxophonisten, Komponisten und Bandleaders Helmut Brandt
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges änderten sich die musikalischen Hörgewohnheiten in Deutschland
zunächst kaum. Zwar war die zuvor ständig präsentierte Marschmusik passee und es belebte sich
die Tanzmusik unter dem Einfluss des amerikanischen Swing, aber die sinfonische Unterhaltungsmusik beherrschte
als populäre Tochter der seriösen historischen Tonkunst neben den aktuellen Schlagern die Programme
der zahlreichen Rundfunksender.
Disziplinierter Künstler: der Berliner Helmut Brandt.
Foto: Archiv
Der Jazz galt vorläufig weiterhin wie seit den späten 20er-Jahren als fremdartiger
Bürgerschreck. Nur die Jugend interessierte sich für diese auffällig rhythmisch geprägte
Musik mit zunehmender Begeisterung, sogar jenseits der sonst so üblichen sozialen Begrenzungen. In den
Metropolen wie Berlin (West), Hamburg, München, Frankfurt und Köln gründeten Fans Jazzclubs und
in den frühen 50er-Jahren wurden die ersten Jazz-Festivals initiiert. Dort, 1955 beim 3. Deutschen Jazz-Festival
in Frankfurt am Main, katapultierte sich Helmut Brandt mit seiner Combo in die vorderste Reihe der deutschen
Jazzmusiker. Begeistert umjubelte das Publikum die junge Truppe aus Berlin, mit der Besetzung Baritonsaxophon,
Trompete, Piano, Bass und Drums. Die Arrangements schrieb alle Helmut Brandt; auch seine ersten Kompositionen
entstanden, wie zum Beispiel die berühmte Ballade Nordlicht.
Strenge Disziplin
Über die strenge, geordnete Arbeit mit seinen Musikern erzählte er später: Wir waren
immer sehr diszipliniert. Meine damalige Combo übte sehr viel und das Publikum hat sich gewundert, wie
alles aus dem Effeff so schön klappte. Wir haben uns die komplizierten Sachen immer wieder
vorgenommen, da etwas gefeilt und dort etwas verbessert und jeden Abend öffentlich gespielt.
In der Bundesrepublik begann sich der Jazz zu emanzipieren, und wenngleich die Musikbranche weiterhin von
den tradierten Genres beherrscht wurde, konnten sich doch deutsche Eigenarten in dieser bisher ausschließlich
nach US-amerikanischen Vorbildern geprägten Musik langsam herausbilden. So fremd, wie es uns verkrustete
Vorurteile immer wieder weismachen wollten, war diese Musik ohnehin nicht. Sind doch neben ihrem afrikanisch-amerikanischen
Ursprung gerade im harmonischen Bereich und den vom Musical des frühen 20. Jahrhunderts entlehnten Elementen
transponierte europäische Anteile deutlich zu erkennen.
Als Miles Davis 1948 das Capitol Orchestra gründete und mit dem Arrangeur Gil Evans das Klangideal der
Cool-Jazz-Ära begründete, war Helmut Brandt 17 Jahre alt und studierte in Berlin am Klindworth-Scharwenka-Konservatorium
Klarinette und Tenorsaxophon. Er spielte bald in verschiedenen Berliner Clubs und holte sich erste BigBand-Erfahrungen
in den bekannten Orchestern Lubo DOrio und Kurt Widmann, nachdem er zum Baritonsaxophon überwechselte.
Als Arrangeur und Komponist Autodidakt, erarbeitete er sich durch das Abhören und Nachschreiben von Jazz-Schallplatten
seine Orchestrierungskenntnisse hartnäckig selbst. Helmut Brandt im Originalton: Ich habe die großen
Jazzmusiker akribisch studiert. Stan Kenton kenne ich seit meiner Jugend in- und auswendig. Von Schellack-Platten
habe ich etwa zehn Titel des Miles Davis Capitol Orchestras abgeschrieben und nacharrangiert. Es waren sehr
komplizierte Klänge, sehr schwer zu hören.
Nach dem fantastischen Erfolg auf dem Frankfurter Jazzfestival, seine Komposition Sum war dort
der meistdiskutierte Beitrag, sah er für die Realisation seiner größeren kompositorischen Visionen
nur noch Möglichkeiten beim Rundfunk. Nach weiteren herausragenden Erfolgen als Solist und Komponist, zum
Beispiel mit dem 1957 im SDR-Treff Jazz uraufgeführten Konzert für Jazz Combo
und 1958 einer Auftragskomposition für die All Stars des Frankfurter Jazz-Festivals, trat Helmut Brandt
1959 dem damals über Deutschland hinaus bekannten RIAS-Tanzorchester Berlin als Baritonsaxophonist und
Arrangeur bei. Im Verlaufe der Jahre schrieb er neben populären BigBand-Arrangements zahlreiche große
Orchesterwerke, wie Reise nach Prag in 3 Sätzen, in der außer der Big Band noch Streicher,
Hörner und Holzbläser mitwirken. 1998 wurden durch das Rundfunk Sinfonieorchester Berlin und die RIAS-BigBand
seine Symphonischen Impressionen im Konzerthaus Berlin uraufgeführt. Diese sinfonischen Jazzkompositionen
gehören auf diesem Gebiet zu dem Interessantesten, was im Deutschland des 20. Jahrhunderts entstand.
Zunächst an der Mixtur Capitol-Orchestra und Hindemith (Quartenharmonik) orientiert, wobei er die Quartenharmonik
für sich selbst neu entdeckte, erweiterte sich später sein stilistischer Rahmen über die Romantik
des 19. Jahrhunderts bis zum Bachschen Barock des 18. Jahrhunderts. Stilistisch mit großem Geschmack
geordnet, fließen in seinen Werken Übergänge vom Jazzsolo in strenge orchestrale Kontrapunktik
und wieder zurück, musikalisch elegant und nicht brüchig abrupt.
Formal übersichtlich geordnet, wird so dem Hörer das Mitempfinden dieser harmonisch wie rhythmisch
oft sehr komplexen Musik ermöglicht. Expressive Orchesterparts kontrastieren mit ruhenden Orgelpunkten
oder balladenhaften Blues-Sequenzen und erleichtern dem Hörer die Aufnahmebereitschaft, ohne einem banalen
Behaglichkeitsanspruch zu hofieren. Die Verbindung zwischen Jazz und Neuer Musik gelingt hier dank der einfühlsamen
Inspiration dieses Autors, wobei beide Gattungen zu einer musikalisch eigenwilligen, reizvollen Symbiose verschmolzen
werden.
Schöpferischer Eifer
Ohne ungewöhnliche Gaben baut niemand ein Lebenswerk, schreibt Thomas Mann. Helmut Brandt
war ein ungewöhnlicher Musiker. Sowohl als einer der hervorragendsten Saxophonisten wie als Komponist blieb
er bis zuletzt voll schöpferischen Eifers, voller Neugier und beständigem Fleiß. Ein Feuilletonist
schrieb: Musik, det war sein Leben. Und sonst ja nischt. Diese journalistische Ahnungslosigkeit
befremdet, zumal sich in diesem Nachruf einer großen Tageszeitung weitere Ungereimtheiten finden.
Musik war wohl sein Leben, aber er beschränkte seine wachsame Neugier eben keineswegs nur auf diese. Man
konnte Tage mit ihm wandern, ohne über Musik zu reden. Es wurde von ihm ebenso eingehend und kenntnisreich
über das römische Weltreich und seine zunächst griechische Kulturabhängigkeit gesprochen
wie über das frühe Christentum; aber auch über Naturwissenschaft oder die gesellschaftlichen
Veränderungen durch die Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Er konnte pausenlos über Gott und die
Welt diskutieren, mit Ernst und Witz. Er war ein Berliner aus einfachen Verhältnissen, die er nicht verleugnete,
denen er aber längst entwachsen war, bei bleibender Liebe zu seiner Herkunft.
Trotz der großen Erfolge und Anerkennungen blieb er zeitlebens bescheiden, umgänglich und freundlich,
aber ungeduldig und suchend.
Als er mit 65 Jahren aus der RIAS-BigBand ausscheiden musste, arbeitete er erfolgreich weiter mit seinem bereits
vorher gegründeten Helmut-Brandt-Mainstream-Orchestra, dessen reichhaltiges Repertoire er aus eigenen und
anderen populären Jazznummern selbst schrieb. Vor einem Jahr wurde er für sein musikalisches Lebenswerk
mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande geehrt.
Unser natürlicher Lebenswille verhindert oft die Ahnung vom Tode, aber sie streift uns gelegentlich,
so auch den vitalen, jugendlichen 68-jährigen Helmut Brandt, als er vor zwei Jahren sagte: So viel
möchte ich noch machen! Mozart und Beethoven nicht, dass ich mich mit ihnen vergleichen wollte
aber beide hatten wohl das ganze Leben Angst, nicht mehr genug Zeit zu haben, all das aufzuschreiben, was ihnen
im Kopf herum spukte. Diese Angst kenne ich auch.
Ihn ereilte ein plötzlicher Herzschlag bei einem Spaziergang in Stuttgart, wo er mit seinem großartigen
Mainstream-Orchestra bald wieder auftreten sollte und dessen neueste CD demnächst erscheinen wird.